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EINTEILUNG DER WISSENSCHAFTEN.
VON
C. STUMPF.
AUS DEN ABHANDLUNGEN DER KÖNIGL. PREUSS. AKADEMIE DER WI8SENSCHAF1T.N
VOM JAHRE 1906.
BERLIN 1907.
VERLAG DER KÖNIGL. AKADFIMIE DER WKSSENSCHAFTEN.
IN KOMMISSION BEI (JKOUr. KKl.MKK.
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C. STUMPF.
AIS DEN ABHANDLUNGEN DER KÖNIGL. PREUSS. AKADEMIE DER WISSENSC^HAFTEN
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VERLAG DER KÖNIGL. AKADEMIE DER WISSENSCII AFFEN.
IN KOMMISSION KKI («KORO REIMRR.
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\ ersteht man unter einer Wissenschaft einen relativ cinheitliclien Komi)lex
von Erkenntnissen und Untei*suchungen , so entstellt sofort die Frage,
wodui'ch die Einheitliclikeit des Komplexes gc^geben sei. Die Frage fiUirt
auf das Problem der Klassifikation der Wissenschaften. Die Untei-schiedc*
der Klassifikationen aus verschiedenen Zeiten, bei Aristotelks, den Stoi-
kern, den Enzyklopädisten des Mittelalters, Baco, Bextuam, Ampehe, Comte,
Spencer lassen sich zum Teil aus dem tatsächlich verschiedenen Stande
des mensclüiclien Wissens verstehen, wie er durch das Aufkommen neuer
Disziplinen, die veränderte Aufiassmig der alten, die Verschiebungen der
Arbeitsteilung mid Arbeitsgemeinschaft herbeigefuhi't wii-d. Zmn Teil liegen
die Unterschiede aber auch an individuellen Theorien der Urheber jener
Klassifikationen mid zumal an iliren Vorstellungen von dem Id(^alzustande,
dem sich die einzelnen Gebiete in Hinsicht der Metliode und der Ergeb-
nisse nähern, üerade dieser subjektive Faktor maclit solche Unterschei-
dungen häufig wertvoller, als es getreue Registrierungen des jeweiligen
Wissenschaftssystems sein wüinien, weim nämlich und sofeni sachliche
Anregungen daraus fließen.
Jeder Spezialforscher, der über seme eigene Disziplin nachdenkt, sieht
sich dazu geftLhrt, sie auch in ihrem Verhältnis zu den übrigen von allge-
meineren Standpunkten aus zu betrachten. Der Plulosoph , der seinen Stand-
punkt so hoch wie möglich nelmien soll, wird die Architektonik des Wissen-
schaftsgebäudes unter dem Lichte der allgemeinsten Begriffe sehen , auf die
seine Untersuchungen hinauslaufen. Er kann so zu Unterscheidmigen ge-
langen , die von Zeitströmungen weniger abhängig sind. Aber den Spezial-
forschem damit zu nützen , kann er nur dann hoffen , wenn er deren eigene
Stinmie über Gegenwart und Zukimft ihres Faches mit zu Rate zieht.
Nachdem nun eine der philoso2)hisclien Disziplinen, die Psychologie, s(*lbst
(Mi{3?SÖ.<i-S-
HARVARD
COLLEGE
LIBRARY
6 Stumpf:
bleiben doch Grundlage der Physik , mag sie sich in den Schlüssen und
selbst in der Begriffsbildung noch so weit davon entfernen. Nun kann
man wohl innerhalb des unmittelbar Gegebenen die Wurzeln einer Zwei-
teilung finden , die dann auch auf die Formulierung der Gegenstände ent-
scheidenden Einfluß gewinnt (Erscheinungen — psychische Funktionen).
Aber damit verläßt man eben das Prinzip jener Einteilung.
Selbstverständlich läßt sich auch nicht etwa sagen, die Erkenntnis-
theorie (statt der Psychologie) sei die Wissenschaft, die vom unmittelbar
Gegebenen handelt. Sie handelt davon, sofern sie feststellt, was es heißt:
»unmittelbar gegeben sein« und was zu dieser Klasse von Erkenntnissen
gehört, was nicht. Also nicht unmittelbar Gegebenes selbst, sondern der
allgemeine Sinn des Ausdi-uckes und die Klasse, die er bezeichnet, ge-
hören zu ihren Untersuchungsobjekten.
II. Begriff des Gegenstandes im weitesten Wortsinne.
Um zu brauchbaren Einteilungsprinzipien zu kommen, ist es uner-
läßlich, zuvor die neuerdings vielbesprochene Unterscheidung von Inhalt
und Gegenstand unseres Denkens kurz zu erläutern.^
Erscheinungen sind der Ausgangspunkt , sie sind notwendig auch das
ursprüngliche Material intellektueller Funktionen. Allmählich werden Ver-
hältnisse zwischen ihnen, es werden auch psychische Funktionen wahr-
genommen, während sie sich an den Erscheinungen vollziehen. Das Denken
(als Gesamtheit der intellektuellen Funktionen verstanden) fiihrt weiter zu
Gebilden in dem firüher erläuterten Siime: Begriffen, Inbegriffen, Sach-
verhalten.** Was wir nun im weitesten Wortsinn einen Gegenstand nennen,
über den wir denken und sprechen, ist jedesmal bereits ein Gebilde, und
zwar ein begriffliches Gebilde. Auch Individuelles läJät sich niemals
anders als mit Hilfe von Allgemeinbegriffen beschreiben. Sagen wir: »dieses
Rot hier«, so lehren die Demonstrativa , daß es sich um Individuelles
handelt, aber Rot ist der Name eines Begriffes. Nicht also das Wahr-
^ An der Diskussion haben sich vorzugsweise Twardowsky, Meinuno, Husserl, Lipps
beteiligt. Die folgenden Bemerkungen stehen den Anschauungen Husserls am nächsten (Lo-
gische Untersuchungen II, 46 f.).
* Siehe die vorausgehende Abhandlung «Erscheinungen und psychisclie Funktionen«
S. 28 f.
Zur Einteilung der Wissenschaften. 7
nehmen, nicht das Herausheben einer Erscheinung aus dem Chaos ununter^
schiedener Eindrücke , sondern die Begriffsbildung ist es , durch die Gegen-
stände entstehen.^ Indem wir eine Erscheinung oder einen Erscheinungs-
komplex oder auch ein Verhältnis oder eine Funktion oder einen Komplex
solcher Elemente unter allgemeinen Begriffen erfassen, werden aus den
bloßen Inhalten Gegenstände des Denkens. In der Sprache gibt sich diese
Umwandlung durch sinngemäße Anwendung der allgemeinen Namen kund.'
Hierbei deckt sich nun das Erscheinungsmaterial einschließlich der
assoziierten Yorstellungsinhalte (Erscheinungen zweiter Ordnimg) meistens
nicht mit der Bedeutung des Begriffes und Namens, sondern bleibt dahinter
zurück. Wir sagen und denken »Kugel«, während sowohl die etwa vor-
handenen Empfindungen wie die von früher her mit diesen Empfindungen und
mit dem Worte Kugel assoziierten Vorstellungen nur äußerst unvollkommen
der uns wohlbekannten und klar gegenwärtigen Bedeutung des Namens ent-
sprechen. Diesen Zug möchte ich indessen nicht (wozu Husseri. zu neigen
scheint) als das eigentlich charakteristische Merkmal ansehen, wenn es gilt,
den Unterschied von Inhalt und Gegenstand zu erläutern. Ein anderes ist die
Bildung eines Denkgegenstandes aus dem Vorstellungsmaterial durch all-
gemeine Begriffe , und ein anderes das Denken eines Gegenstandes von einer
bestimmten Seite her, nach einem einzelnen Merkmal, während das Ganze
gemeint ist. Der letzte Zug kommt zum gegenständlichen Denken hinzu,
aber er macht nicht sein Wesen aus.
Wir müssen wohl vielfach das Wesentliche, Zentrale, die Invariante
eines Begriffsgebildes von zufälligen Ansichten unterscheiden, die augen-
blicklich im Vordergrund eines Denkaktes stehen und durch besondere
^ Ich glaube hiermit den Vorgang zwar nicht erschöpfend, aber etwas bestimmter
bexeichnet zu haben, als es Lipps tut, wenn er Gegenstande durch das «geistige Auge«, durcli
den Denkakt, die Aufmerksamkeit oder die AufTassungstXtigkeit entstehen l&ßt (Psychologische
UnleraachoDgen, i.Band, i.Heft, 1905, S.ai f.). Übrigens hat bereits Dbscabtks in seinen allb-e
kannten Betrachtungen Ober die Identität eines StQckes Waclus bei allen möglichen Ersclieinungs-
verinderungen (3. Meditation) auf die Beteiligung des begrifflichen Denkens hingewiesen.
* Allgemeine Namen können, wie Wundt einmal richtig bemerkt, auch schon vor
der Bildang Ton Allgemeinbegriffen durch bloße Assoziation von einem Gegenstand auf einen
aaderen infolge ganz zufälliger Anliase Übertragen werden. Darum ist im Text von einer
simigemäßen Anwendung, d. h. einem Verstehen der allgemeinen Bedeutung, gesprochen.
Was dies wieder heißen will, kann die Psychologie und I^gik näher zu erläutern ver-
suchen; hier darf das begriffliche Denken im Unterschied von der bloßen Aufeinanderfolge
von Einzelfaildem als eine Tatsache vorausgesetzt werden.
8 Stumpf:
Ausdrficke bezeichnet werden.' Die beiden Ausdrucke: »Der Sieger von
Austerlitz«, »»Der Besiegte von Waterloo« bezeichnen denselben Gregenstand.
So ist es auch möglieh, ganz einfache Gegenstände wie »Rot« auf die
mannigfachste Weise durch Umschreibungen zu charakterisieren, derart
daß die entstehenden Gedankengebilde in der Tat sehr verschieden sind,
während der Gegenstand unverändert bleibt. Daraus folgt, daß man in
solchen Fällen als Gegenstand eben nur das Zentrale ansehen darf, das
allen diesen Umschreibungen gemeinsam ist. Dieses selbst aber, wie es
in unseren beiden Fällen durch die Worte »Napoleon!.«, »Rot« ausge-
drückt wird, erlangt Gegenständlichkeit doch nur dadurch, daß es unter
einem Begriff erfaßt wird, sei dieser noch so allgemein, und sei auch
der Name des Begriffes dabei augenblicklich nicht unter den Bewußtseins-
inhalten. Es ist tatsächlich unmöglich , bei den genannten Worten irgend-
etwas, auch nur das Geringste und Flüchtigste, zu denken, ohne daß
zugleich irgendwelche Allgemeinbegriffe im Bewußtseinsinhalt eingeschlossen
wären. Es zeigt sich auch hier das charakteristische Grundmerkmal mensch-
lichen Geisteslebens, das ims überall entgegentritt, wo wir irgendwelche
seiner Leistungen zu analysieren versuchen.
Gegenstände in dem weiten Sinne, wie hier der Ausdruck steht, sind
nicht notwendig reale Gegenstände, Dinge. Wenn wir z.B. zwei Farben
in bezug auf Nuance oder Helligkeit vergleichen, ist es gleichgültig, ob
wir sie als Dinge oder als Eigenschaften von Dingen oder als bloße Be-
wußtseinsinhalte auffassen: Gegenstände sind sie immer. Ebenso wenn
wir in der Psychologie die einzelnen Denk- oder Gefiihlsftinktionen unter-
suchen: sie sind dann Gegenstände. Was immer imter allgemeinen Be-
griffen erfaßt wird, wird gegenständlich erfaßt. In Zweifelsfallen bedarf
es also, wenn speziell von realen Gegenständen die Rede sein soll, zur
Vermeidimg von Unklarheiten eben dieses Epithetons.
In der psychischen Entwicklung des Individuums entstehen Gegen-
stände nicht etwa zuerst als äußere Gegenstände. Die hierin liegende
Unterscheidung eines Außen und Innen ist späteres Produkt. Erst wenn
der Gegensatz des eigenen Körpers und fremder Körper, weiterhin der des
eigenen imd eines fremden Seelenlebens aufgetreten ist, sind äußere Gegen-
stände als solche für das Bewußtsein vorhanden. Der Ichgedanke hat darum
* Siehe •Erscheinungen und psychische Funktionen« S. 30 Anm., 33 Anm.
Zur Einteilung der Wissenschaften. 9
nichts mit dem allgemeinen Gegenstandsbegriffe zu tun ; er ist nicht etwa das
notwendige Kon'elat dazu, sondern selbst nur eine besondere Form davon/
Wenn nun das Denken sich statt auf Individuelles auf Allgemeines
als solches richtet, auf Begriffe, Gesetze, so flült hier der Unterschied
zwischen Inhalt und Gegenstand hinweg. Sie sind eo ipso Gegenstände
und niemals etwas anderes. Nur jener zweite Zug tritt auch hier liinzii,
daß wii" einen zusammengesetzten Begriff, wie den des gleichseitigen Drei-
ecks, nur diesem einzelnen Merkmal nach benennen und identifizieren,
walirend wir sehr wohl wissen (und zwar uns aktuell bei^nißt sind), daß
dem so bezeichneten allgemeinen Gegenstand eine Fülle uns augenblicklich
nicht gegenwärtiger Eigenschaften und Beziehungen zukommt. Die schwie-
rige Aufgabe einer näheren Beschreibung dieses intellektuellen Verhaltens
und Verfahrens kann hier auf sich beruhen.
Das Allgemeine ebenso wie das unter einem Allgemeinbegriff auf-
gefaßte Individuelle wird stets ohne Rücksicht auf den momentanen Denk-
akt aufgefaßt. Anders ausgedrückt: alles begriffliche Denken ist ein ol)-
jektives Denken. Auch Urteilsinhalte (Sachverhalte), selbst Negativa, wie
die Nichtexistenz eines kreisförmigen Vierecks, sind in diesem Sinn ob-
jektiv. Analogien dazu bietet auch das Gefiililsgebiet : Wertvolles wird
begehrt ohne jede Beziehung zum augenblicklichen Akte des Begehrens
selbst. Den Werti^n kommt in gleichem Sinne wie den Sachverhalten
Objektivität zu. Objektivität bedeutet also hierbei nicht ein außerbo^nißtes
Dasein, sondern nur den Umstand, daß in den Begriffsinhalt niemals das
Merkmal des individuell-augenblicklichen Denkens, in den Gefühls- und
Willensinhalt niemals das Merkmal des individuell -augenblicklichen Fflhlens
und WoUens eingeht, worin jene intellektuellen und diese emotionellen
Inhalte gegeben sind.
Mit der Objektivität ist zugleich Plinheit gesetzt. Eben weil der
zufallige augenblickliche Denkakt nicht selbst als Merkmal in den gedach-
ten Begriff eingeht, ist er der Intcaition nach ein un<l derselbe fiir alle
Denkenden, die das bezügliche Wort in gleichem Sinne verstehen. Es ist
nicht bloß ein gleicher, sondern ein identischer, wie IIvsskri, mit Recht
betont hat. Er ist identisch in demselben Sinne, wie wir von einem nicht
' Auch in dieser Bexiehung kann ich Lipps nicht beipflichten, wenn er mit den
Gegenständen zugleich den Gegensatz zwischen ihnen und dem Ich oder dem Bewußtsein
enUtehen Iftßt (a. a. 0. 22).
PhUo$.-hi8ior. Abh, 1906. V. 2
10 Stumpf:
bloß gleichen, sondern identischen Ofen reden, wenn mehrere davor stehen,
obschon die Inhalte iinsrer Sinnesempfindungen und Sinnesvorstellungen nur
gleich oder auch nicht einmal gleich sind. Zm* platonischen Ideenlehre
brauchen wir darum noch nicht zurilckzukehren , da Gegenständlichkeit
nicht soviel ist wie Realität. Aber ihr Wahrheitskern kommt uns doch
in solchen Betrachtungen lebhaft zum Bewußtsein.*
Die Bildung von Gegenständen in diesem Sinn unter dem Einfluß der
alltäglichen Erfahrung gehört zur Vorgeschichte des wissenschaftlichen Den-
kens. Die Wissenschaft findet Gegenstände aller Art schon vor und bildet
sie nach immer strenger und konsequenter durchgefiihrten Gesichtspunkten
um. Dadurch in erster Linie bestimmt sich die Klassifikation der Wissen-
schaften. Wir heben mm einige Einteilungen der Gegenstände heraus,
die sich als die durchgreifendsten Unterscheidungsmerkmale fiir die Grup-
pierung wissenschaftlicher Untersuchungen erwiesen haben, und die auch
ihren methodischen Charakter wesentlich beeinflussen.
ni. Physisches und Psychisches. Natur- und Greisteswissenschaften.
Der Gegensatz des Physischen und des Psychischen lag von jeher,
wenn auch verschieden definiert, der Scheidung von Natur- und Geistes-
wissenschaften zugrunde. Wir akzeptieren dieses Einteilungsprinzip, be-
merken aber sogleich, daß die Einteilung in jedem Fall \m vollständig ist.
Geht man auf die letzte Wurzel des Unterschiedes zurück, so kann
diese nur gefunden w^erden in dem früher erläuterten Unterschiede der
Erscheinungen und der psychischen Funktionen, jener Dualität, die im un-
mittelbar gegebenen Tatbestand eines jeden Bewußtseins enthalten ist.
Von hier aus kommt man aber nicht auf gleichem Wege zu den Natur-
wie zu den Geisteswissenschaften.
1. Naturwissenschaften.
Es läge nahe und entspräche weitverbreiteten Redewendungen, sofort
die Naturwissenschaften als Wissenschaften der Erscheinungen zu
bestimmen. Tatsächlich aber wai-en niemals bloße Erscheinungen im
^ Auf die bereits von Hussbrl (1,215) ausfQbrlich zitierten Bemerkungen Herbarts
über Objektivität und Identität des Begriffsinbalts sei auch hier verwiesen, da sie den
Psychologen Herbart zugleich als einsichtigen Erkenn tnistheoretiker zeigen.
jSur Einteilung der Wissenschaflen. 11
strengen Wortsinn ihr Gegenstand. In einem frühen Stadium mochte man
wohl glauben , in den empirischen Gegenständen , die zwar auch nicht als
Erscheinungen zu definieren , aber vom gewöhnlichen Bewußtsein wenigstens
aus dem bloßen Krscheinungsmaterial im Denken aufgebaut sind, in den
ausgedehnten, farbigen, klingenden, schmeckenden, riechenden Körpern
als solclien die Träger der Kräfte, Ursachen und Wirkungen vor sich zu
haben. Die aristotelische Physik handelte von physischen Gegenständen
in diesem Sinne. Aber selbst damals waren es nicht die Qualitäten selbst,
sondern die diurch QualitätsbegrifTe charakterisierten Gegenstände, deren
Umwandlungen man untersuchte. Dies ist nach dem vorher Bemerkten
z^veierlei. Die sinnlichen Qualitäten sollten auch nur eine Seite der
Dinge sein, denen man außerdem noch Kräfte und verborgene Qualitäten
zuschrieb; imd gerade aus solchen strebte man ihre Umwandlungen zu
erklären.
Heute wissen wir, daß die Dinge, durch deren Einwirkung auf unsere
nervösen Zentralorgane man sich die waluTielmibaren Erscheinungen ent-
standen denkt, überhaupt nicht durch spezifische Simiesqualitäten bestimm-
bar sind. Von nur abstrakt mathematisch definierbaren Dingen handeln
Physik und Chemie, und in diese Wissenschaften strebt alle Naturforschung
sich nach Mögliclikeit aufzulösen. Angesichts des Eindruckes, den eine rein
phänomenalistische Auffassung der Physik, von einem so geistreichen Fach-
mann wie E. Mach beförwortet, in weiten Kreisen gemacht hat, muß man
es nachdrQcklich aussprechen, daß diese phänomenalistische Auffassung in
konsequenter Form nicht mehr und nicht weniger besagen würde als : die
Physik noch einmal von vom anzufangen.
J. St. Mill hat bekanntlich in Durchfuhrung BERKKLKVscher und posi-
tivistischer Gedanken die vom Bewußtsein imabhängig fortbestehenden
Außendiuge, wie sie das gewöhnliche Bewußtsein imd (in abstrakterer
Formulierung) die gewöhnliche Physik anninuut, in bloße »permanente
3Iöglichkeit<*n der Empfindmig« umgedeutet. Wir wissen eben, daß, wenn
wir die Augen schließen und wieder öffnen, die nämliche optische Er-
scheinung wieder auftritt. Weiter liegt nach dieser Deutung, die in keiner
Weise über die Tatsachen hinausgehen will, nichts vor. Dies ist auch
der Kern von Machs Auffassung.
Nun aber beruht die ganze Physik gerade umgekehrt auf der Er^
fahrung, daß es solche permanente Möglichkeiten der Empfindung nicht
12 Stumpf:
gibt. Das Gesichtsbild kehrt uiclit stets unverändert wieder, selbst wenn
alle vorausgehenden und begleitenden Sinnesempfindungen (Muskelempfin-
dungen usw.) so genau wie nur möglich wiederhergestellt werden. Könnte
man die Summe aller gleichzeitigen und aufeinanderfolgenden Sinnesempfin-
dungen eines individuellen Bewußtseins aufschreiben (und nur individuelle
Empfindungen gibt es in Wii'klichkeit) , so wiii-de diese Liste zwar gewisse
Regelmäßigkeiten der Koexistenz und Succession da und dort aufweisen,
nicht aber strenge und ausnahmslose Gesetze. Wahrscheinlich würden sogar
in der ganzen Linie sich nicht zwei Elemente finden, die durchgängig
miteinander verknüpft wären. Diese Inkonstanz der Erscheinmigen wird
auch dadurcli nicht beseitigt, daß man die Erscheinungen zweiter Ordnung
(die bloßen Vorstellungen) des nämlichen individuellen Bewußtseins hin-
zunimmt. Denn wir können zwar jedesmal durch Interpolation anschau-
liclier Vorstellungen von räumlichen Prozessen gemäß den uns schon
bekannten Naturgesetzlichkeiten die Anomalien des Empfindungsverlaufes
ausgleichen, aber wir tun es doch tatsächlich nicht jedesmal. Somit be-
sitzt der tatsächliche Lauf der Erscheinungen einschließlich derer der
zweiten Ordnung eben keine gesetzliche Konstanz. Ja sogar wenn man
die Erscheinungen erster und zweiter Ordnimg bei anderen mit Bewußt-
sein begabten Individuen in das Interpolationsverfahren aufiiShme, so würde
auch so ein lückenloser Zusammenhang nicht resultieren, im Gegenteil,
es gäbe ein unendliches Wirrsal.
Wir können die Einschläge von Unregelmäßigkeiten in Regelmäßig-
keiten des tatsächlichen Erscheinungsverlaufes , analog wie die scheinbaren
Unregelmäßigkeiten der Planetenbahnen, nur auf dem Wege der Hypo-
thesen beseitigen. Und die einzige brauchbare Hypothese, die zu un-
endlich fruchtbaren Folgerungen , zu allgemeinen Gesetzen und fortlaufenden
Verifikationen durch Voraussagungen und darauf gegründetes Handeln ge-
fuhrt hat, ist die einer vom Bewußtsehi unabhängig existierenden, in sich
selbst aber nach Kausalgesetzen zusammenhängenden Welt von Dingen.
Einen geringftigigen Bruchteil dieser Ding weit, den »eigenen Körper«,
genauer gewisse Teile desselben, denken wir in einer konstanten Ver-
knüpfung mit unserem Bewußtsein, wie auch immer diese Verknüpfung
naher definiert werden mag. Dann erlialt man eine doppelte Veränderungs-
reihe, die der »äußeren Körper« unter sich mid die des »eigenen Körpers«
relativ zur übrigen Köi-perwelt, und aus dieser zweifachen Veränderungs-
Zur EiiUeäung der Wissenschaften. 13
inöglichkeit lassen sich sämtliche tatsäclüich beobachtete Regelmäßigkeiten
wie Unregelmäßigkeiten des Erscheinmigsverlaufes herleiten.
Wie die Wui-zel und die allgemeine Möglichkeit einer physikalischen
Wissenschaft, so ist auch jeder Fortscliritt darin an die Unterscheidung
der objektiven Dinge von den Erscheinimgen geknüpft. Es war ohne
Zweifel richtig, zunächst so viel als möglich von dem vollen Bestände der
sinnlichen Eigenschaften der Gegenstände, wie sie das gewöhnliche Denken
dem wissenschaftlichen überlieferte, beizubehalten. Aber allgemach hat
man notgedrungen fast alles davon über Bord geworfen. Schon die aus-
gedehnten Atome waren bereits der Farbe und aller spezifischen Qualitäten
beraubt und dadurch im Grunde ganz unanschaulich geworden (denn Aus-
dehnung ohne Farben- oder Tastcjualität ist unvoi'stellbar). An ihre Stelle
traten aber, nach den genialen Antizipationen von Leiüniz und Boscovicu, zur
Zeit der Ampere, Cauchy, W.Weber, Lotze und Feciiner ausdehnungslose
Kraftzentren. Heute brauchen wir, wie übrigens auch Lotze, ja Leuiniz schon
betont haben, den Ramn nur mehr als eine abstrakte Ordnung, in der jedes
Glied durch di-ei Variable, an Stelle der anschaulichen Dimensionen, ])e-
stimmbar ist. Es ist unter den Erscheinungsbegriffen nur der Zeitfaktor
unreduziert übriggeblieben, der nun einmal aus dem Begriffe der Ver-
änderung nicht hinauszubringen ist. Das heuristische Prinzip bei diesen
Umformungen lautet heute nicht wie anfangs: soviel als möglich von den
sinnlichen Eigenschaften beibehalten , sondern imigekehrt : soviel als möglich
davon aus den Definitionen entfernen. Und dies ist auf dem gegenwär-
tigen Standpimkte das Richtige. Denn Begriffe kann man umfonnen, An-
schauungen nicht. Daß wir aber beständig umformen müssen, ist die
Lehre der Jahrhunderte. Überdies haben wir gelernt, die ^Vnschauungen
iumier mehr als ein ZufSIliges zu betrachten, das dem einen so, dem
andern anders gegeben ist, je nach der B(*schaffenh(nt des winzigen T<*iles
der DingA^elt, mit dem sein individuelles Bewußtsein konstant verknüpft
ist, seiner Sinnes- und Zentralorgane. Daß daher irgendwelche Erschei-
nungen mit der Dingwelt jenseits der Erscheinungen qualitativ konfonn
wären, ist nicht mehr von vornherein wahrscheinlich, sondern unwidir-
scheinlich und für jede Gattung der Erscheinungen des Beweises bedürftig.
Der Beweis kann aber nur geführt wc^rden durch die Einftigung der ent-
sprechenden Hypothese in die große Hypothese der Physik. Was in den
Formeln der mathematischen Physik nicht enthalten, also zur Voraussagimg
14 Stumpf:
von Erscheinungen nicht unbedingt erforderlich ist, mag als Hilfsvorstelliing,
Modell, Durchgangspunkt nützlich sein, gehört aber nicht zum wesentlichen
und bleibenden Gegenstand der Naturwissenschaft, durch den man sie defi-
nieren kann.
Man muß nur die phänomenalistische AufTassung streng wörtlich nehmen und sie dann
an konkreten Beispielen durchzufuhren versuchen, um ihre Haltlosigkeit zuerkennen. Auch
nicht eines der physikalischen Gesetze, auch das allereinfachste nicht, iSßt sich als Gesetz
von Sinneserscheinungen ausdrücken. Um zu schweigen von Begriffen , die der Anschauung
so ferne stehen wie etwa der der potentiellen EInergie, — man analysiere nur einen schein-
bar so ganz anschaulichen Satz wie diesen: »Wenn der linke Wagebalken halb so lang ist,
wie der rechte, so muß, damit Gleichgewicht bestehe, die Last am linken Ende doppelt so
groß sein, wie am rechten, 2p gegen p»* Hier ist nicht einmal das Längenverhältnis der
Wagebalken als optische Erscheinung gegeben, da der Erscheinungsraum nicht exakt- metrisch,
ja nach Mach sogar überhaupt nicht metrisch ist (Erkenntnis und Irrtum S. 33if.).* 2 p be-
deutet aber natürlich nicht eine Gewichtsempfindung des Druck- oder Mnskelsinnes (schon
darum nicht, weil die Empfindung als solche uns nur lehren kann, daß ein Gewicht schwerer
als ein anderes, niemals aber, daß es doppelt so schwer ist). Vielmehr bedeutet ip die
Tatsache, daß diese Last doppelt so viele Gewichtseinheiten wie die andere besitzt. Jede
der beiden ist durch die Zahl der Gewichtseinheiten definiert, denen sie auf der Wage das
Gleichgewicht hält. Auf den Gesichtssinn also würde auch dieser Begriff hinauslaufen. Aber
für den Sinn ist die Erscheinung einer Anzahl von Gewichtsstücken äußerst verschieden je
nach ihrer gegenseitigen Lage. Die Identifikation der Stückchen, die hier zuerst wohl-
geordnet nebeneinander, dann dort auf der Gewichtsschale dicht beisammen oder übereinander
liegen, ist nicht Sache des optischen Eindruckes, der vielmehr totale Verschiedenheit zeigt.
Wir setzen voraus, daß die Stückchen während des Transportes mit sich identisch bleiben,
und wir wissen durch Erfahrung, daß das Gewicht eines sonst unverändert bleibenden
Stückchens durch eine so kleine Lagenänderung sich nicht merklich ändert, sowie daß die
einzelnen Gewichte unter den gegebenen Umständen additiv zusammenwirken. Aber weder
jene Voraussetzung noch diese Erfahrungen gelten von den Erscheinungen als solchen. Sie
haben keinen Sinn in bezug auf solche. Indem wir sie aussprechen, sprechen wir von ob-
jektiven Dingen und Verhältnissen.
Die reinen Erscheinungsbilder sind ja überdies auch bei den einfachsten Dingen und
ihren einfachsten Veränderungen überaus kompliziert: sie 'Zeigen infolge des binokularen
Sehens, wenn stärker disparate Netzhautstellen beseitigt sind, Doppelbilder in verschiedenen
Lagen gegeneinander, sie zeigen die «Streckendiskrepanzen« der Netzhäute auch beim mon-
okularen Sehen, sie zeigen Verkürzungen, Verlängerungen, Krümmungen, Verschwinden
und Auftauchen ganzer Dimensionen, Helligkeits- und Farbenwechsel der Teile usf. Alle
diese Komplikationen sind in den Gegenständen physikalischer Gesetze getilgt oder viehnehr
niemals darin enthalten gewesen. Dem Physiker ist es ganz einerlei , ob das Gewicht p
' Aus diesem Grunde muß ich es nicht blos als unrichtig, sondern zugleich als in-
konsequent ansehen, wenn gerade Mach die rein phänomenalistische Physik vertritt. Ist
der Erscheinungsraum nicht metrisch, was ist dann überhaupt noch metrisch im ganzen
Reiche der Erecheinungen? Gerüche, Geschmäcke? Die physikalischen Gegenstände aber
sind metrisch.
Zur Emteüung der Wissenschaften. 15
etwas weiter oder näher nn seinem Auge liegt, es bleibt das nämliche Gewicht. Die optische
Flrscheiniing aber ist sehr wesentlich verschieden. Seine Dinge sind eben nicht *Sehd)nge-,
um diesen Ausdruck Herings zu gebrauchen. Sie sind auch nicht etwa bloß vorgestellte Seh-
dinge, da ja optische Erscheinungen zweiter Ordnung vollends unbestimmt, schattenhaft und
iließend sind. Sondern sie sind begrifflich definierte Dinge.
Oder will man sagen: sie sind Erscheinungen, nicht wie sie wirklich erscheinen, sondern
wie sie für ein absolutes Auge erscheinen konnten oder sollten? Erscheinungen unter Ab-
straktion von all jenen Trübungen, in denen sie im wirklichen Bewußtsein vorkommen?
Dann sind sie eben in Wahrheit keine Erscheinungen melu*. Die Abstraktion ist die Haupt-
sache. Nur so lange kann man sich fiber die Undenkbarkeit der phanomenalistischen Physik
täuschen, als man die gedeuteten Erscheinungen mit den wirklichen, sozusagen nackten,
Erschein luigen verwechselt. Die Dinge treten beständig unvermerkt an deren Stelle, und
man glaubt positivistisch sich an das Gegebene allein zu halten , während man mit jedem
Worte darüber hinausgreifl.
Wir haben dies an den Erscheinungen des Gesichtssinnes erläutern wollen, weil auf
diese immer noch am plausibelsten die phänomenalistische Auffassung sich stutzen mag.
Daß aber Physik nicht GerQche, Geschmäcke, Schmerzempfindungen tmd deren mathematisch-
gei^etzliche Beziehungen untersucht, liegt ohnedies auf der Hand. Und dennoch: warum
sollte der Gesichtssinn hierin ein V'orrecht haben , wenn Erscheinungen und ihre Gesetze den
(Gegenstand der Physik bilden? Wo bleiben die physikalischen Gesetze, die zwischen Ge-
rüchen und Tonen als solchen oder zwischen Hitze- und Juckqualitäten bestehen?
In dem vorhin augedeuteten Sinn unterscheidet Tb. Zikhbn* Individualemp fin-
dungen und reduzierte Empfindungen oder Reduktionsbestandteiie. Die letzteren
seien Gegenstand der Physik. Sie verhielten sich zu den individuellen Empfindungen etwa
wie ein Bild zu seinen Erscheinungsweisen bei verschiedener Beleuchtung. Also gleichsnm
ein >Bild an sich«, nicht mehr die wirkliche Erscheinimg, wie sie uns tatsächlich allein ge-
geben ist, sondern ein begrifflich umgestaltetes Etwas. Dieser Reduktionsbestandteil ist
nach Ziehen auch das Gemeinsame der Empfindungen verschiedener Individuen, wenn sie
behaupten, einen und denselben identischen Baum zu sehen.
Ziehen scheint mir hiermit, obgleich er sich noch innerhalb des »Idealismus« zu be-
finden behauptet, in den Realismus zurückzulenken. Der Reduktionsbestandteil ist eben das-
jenige außerbewußte Etwas, dessen Einwirkung auf die verschiedenen individuellen Sinnes-
organe die Verschiedenheit der Erscheinungen erzeugt, die dann von den Inhabern dieser
Sinnesorgane auf Grund vieler Erfahrungen seit frühester Kindheit auf gemeinsame Objekte
gedeutet werden. Jedenfalls ist eine derartige Wendung, wie sie der scharfsinnige Psychiater
vollzieht, mag man sie nun in seiner eigenen Formel oder in einer anderen ausdrücken,
unbedingt erforderlich, um die bis zum Überdruß wiederholten Versichern ngen des vulgären
Idealismus (der den vulgären Materialismus abgelost hat, in dem ich aber nicht mit Ziehen
irgendwelche »Entdeckung- erblicken kann) mit der Existenz einer wissenschafliichen Physik
in Einklang zu bringen.
Selbstverständlich kommt fQr den Physiker niemals etwas in Betracht, das nicht durch
einen Einfluß auf Erscheinungen unserer Sinne sich l^timiert, wie er auch niemals ein
Gesetz aufstellen wird, das keine Aussicht hat, an Erscheinungen geprüft zu werden. Er-
' Psychophysiologische Erkenntnistheorie 1898. Ferner: Zeitschr. f. Psychologie XXXIII,
S.iiif^ bes. 118. XL, S. 34rf.
16 Stumpf:
scheinungen sind Anfang und Ende jeder physikalischen Untei*suchung, aber sie sind nicht
der Gegenstand einer einzigen. Man kann sehr wohl mit Hertz darauf bestehen, daß die
Formeln nur zur Verknüpfung und Voraussagung von Erscheinungen da sind, daß sie gleich-
sam nur den verbindenden Text zwischen ihnen darstellen. Dennoch ist es gerade dieser
Text, dessen Herstellung der Physik obliegt, und der ihren vollen und einzigen Gegenstand
ausmacht Aus dem Fallgesetz ist zu schließen, daß wir eine Kugel, die wir in g^ebe-
nem Moment den Halter des Fallapparatcs verlassen sehen, in bestimmtem Zeitpunkte den
Boden berühren sehen werden, — vorausgesetzt nämlich, daß das Auge auf die Stelle ge-
richtet ist und sonst alle Bedingungen des Sehens vorhanden sind. Aber von diesem unsrem
Sehen enthält das Gesetz nichts. Es sagt nur, daß und wann die Kugel aufschlägt, schlechter-
dings nichts weiter. Ob dies jemand sieht, hört, fQhlt, ist für den Bestand und die Fassung
der Formel gleichgültig, es hat nur Bedeutung für ihren Beweis und andrerseits für ihre
Nutzanwendung. Darum behalten Naturgesetze ihren Sinn ohne Klausel und Zusatz auch
für eine Welt, in der noch kein Organismus war oder keiner mehr sein wird. Wir finden
kein Bedenken darin, sie auf solche Weltzustände anzuwenden; was doch entweder einen
logischen Widerspruch einschließen oder sehr phantastische Hilfsannahmen erfordern würde,
wenn Erscheinungen ihren Gegenstand bildeten. Das Auftreten von Sinnesempfindungen ist
ja nur die Folge bestimmter äußerst spezieller Kollokationen; und daß wir gelernt haben,
uns von dem Zwang dieser zufalligen Nebeneffekte des Weltlaufs, an den wir in der Wahr-
nehmung gebunden sind, wenigstens im Denken zu emanzipieren, ist gerade die Leistung,
die wir den vereinigten Anstrengungen der Physik, Physiologie und Philosophie verdanken.
Zur Verständigung mochte es auch noch dienlich sein, zwischen dem Zweck und
dem Gegenstand der Naturfoi'schung zu untei*scheiden. Der Zweck mag sehr verschieden
gefaßt werden. Schreibt man aller Wissenschaft nur praktische Ziele zu, so folgt natürlich,
daß die Naturforschung ihren besonderen Zweck in der Beherrschung (Voraussagung und
willkürlichen Herbeiführung) von Erscheinungen hat, und zwar von Erscheinungen im wört-
lichsten und engsten Sinn. Aber auch wer dem Wissen nicht bloß praktische Ziele setzt,
könnte immerhin das Wissen um äußere Gegenstände als solche, die nur erschlossen und
hypothetisch sind, als bloßes Mittel einschätzen, während ihm das Wissen um die unmittel-
bar gegebenen Erscheinungen als Selbstzweck erscheinen mag. Denke man hierüber, wie
man will: der Gegenstand der Naturforschung wird dadurch kein anderer. Seine Be-
stimmung ist unabhängig von der Wert- und Zweckbestimmung für die ihm gewidmeten
Untersuchungen .
Physische Gegenstände also oder Gegenstande der Naturwissenschaft,
wodurch diese definiert wird, sind weder Erscheinungen noch Erscheinungs-
komplexe, sondern die aus den Erscheinungen erschlossenen, in
räumlichzeitlichen Verhältnissen angeordneten Träger gesetz-
licher Veränderungen. Ramn und Zeit selbst sind damit nicht als
außerbewußt, vom Bewußtsein unabhängig existierend, gesetzt. Nur räum-
lichzeitliche Verhältnisse müssen außerbewußt existieren. Denn ohne
diese gibt es keine physikalischen Gesetze. Sie sind ein unentbehrlicher
Bestandteil der umfassenden Hypothese, durch welclie die Gegenstände
der Naturforschung fiir unsere Erkenntnis geschaffen werden. Von »Trä-
Zur Einteilung der Wissenschaßen. 17
gern« aber reden wir hier nicht im Sinne des alten Substanzbegriffes, son-
dern nur in dem Sinne, daß die mathematisch -gesetzlichen Beziehungen
doch zwischen irgendetwas statthaben müssen, das in wechselnden Orten
seinen Sitz hat, seien auch diese »Dinge oder Substanzen« in jedem Augen-
blick nur durcli ilire wechselnden Orte voneinander unterscheidbar, im
übrigen aber als bloße Komplexe von Verhaltungs weisen , Kräften, Dis-
positionen definiert.
Atomistik und Stetigkeitslehre, mechanische Physik und Energetik
bilden Gegensätze innerhalb dieses Rahmens, die uns hier nicht zu be-
schäftigen brauchen. Der Naturforscher, und speziell auch der mathema-
tische Physiker, wird und kann niemals darauf verzichten, seine Begriffe
an konkretere Vorstellungen zu knüpfen, als es, ideal gesprochen, unbe-
dingt nötig wäre. Schon in der Raumvorstellung ist ja unweigerlich Quali-
tatives enthalten: man mag sich den leeren Raum noch so schwarz aus-
malen, er bleibt dann eben voll von Schwärze. Aber sie spielt keine
Rolle bei den Rechnungen. Andere Modifikationen, die nicht psycholo-
gisch oder logisch unvermeidlich wären , werden doch absichtlich eingefiihrt,
gerade der Rechnung halber. Im Ergebnisse werden sie zu guter Letzt wieder
verschwinden: mechanische Modelle, Bilder, Arbeitshypothesen. Zu diesen
gehören zweifellos auch die obigen streitenden Vorstellungs weisen. Ob
eine davon den definitiven Sieg erringt oder ob in ewiger Abwechselung
bald diese, bald jene ein Stück weiterföhrt, hat mit der allgemeinen De-
finition des Gegenstandes der Physik nichts zu tun. Ich erwähne dies,
weil von energetischer Seite , unter dem vordringenden Einfluß des Berkeley-
anismus, die Idee der Atome (der unstetigen Materie) und die Annalnne,
Eisenoxydid bestehe tatsächlich aus Eisen und Sauerstoff, als unsinnig
bezeichnet worden ist, da ja nur Sinnes Wahrnehmungen und nichts weiter
gegeben seien. Man kann Boltzmann nur Recht geben, wenn er gegen
solcherlei Ai-gumentationen Einsprache erhob.' Atomistische Vorstellungen
mögen unnötig, auch falsch sein; unsinnig sind sie durchaus nicht.
Wir bezeichneten den Gegenstand der Naturwissenschaft ganz allgemein
im vorstehenden als Hypothese , und Hypothesen sind auch sämtliche darauf
bezügliche Gesetze, da sie, wie alle induktiv erschlossenen Wahrheiten,
' Abhandlungen in den Annalen der Physik, Bd. 57 (1896), abgedruckt in den «Popu«
liren Schriften« S. I04f., 132.
Pkiloi.-kutor. Abh. 1906. V. 3
18 Stumpf:
auf dem Prinzip der Wahrscheinlichkeitsrecliiiinig ruhen, das uns lehi't,
aus Gegebenem auf Nichtgegebenes zu schließen. Arbeitshypothesen unter-
scheiden sich von den essentiellen Hypothesen , die den Gegenstand der
Physik ausmachen, dadurch, daß sie logisch entbehrliche Bestandteile ent-
halten. Zu diesen logisch entbehrlichen Bestandteilen gehört nach den
obigen Bemerkungen sogar der Ersclieinungsrauni. Umsomehr also alle
Vorstellungsweisen, die mit anschaulich-räumlichen Bildern operieren. So-
lange man sich aber bewußt bleibt, daß es nicht auf das Anschauliche, son-
dern ausschließlich auf die darin liegenden abstrakten Gesetzlichkeiten an-
kommt, kann man in der Wahl der Bilder beliebig vorgehen und sie mit
einer so unglaubwürdigen Sinnenfölligkeit ausstaffieren, als man nur immer
für die Unterstützimg des Denkens nützlich findet. Enthalten sie Bestand-
teile, die den begrifflichen Anforderungen geradezu widersprechen, so kann
man sie durch Definitionen korrigieren , wie dies ja auch schon der Geo-
meter beständig zu tun gezwungen ist.'
Es bleibt nach allem aber ein Bedenken zu heben, das vielen als
wichtigstes erscheint. Sind die Träger der Gesetze, gleich den Gesetzen
selbst, doch nur hypothetisch: wai-um müssen sie real sein oder wie können
sie auch nur real sein? Sie sind eben begriffliche HilfskonstiTiktionen,
vielleicht notwendige, zum Unterschied von den willkürlichen, aber doch
nur Konstruktionen , die man sich als vom Bewußtsein miabhängig existie-
rend denkt, während sie gleichwohl Bewußtseinsprodukte bleiben, — sub-
stanzlose »Gespenster«, nur eifunden, imi das einzig Reale, die Erschei-
nungen, unter sich im Denken zu verknüpfen.
Es hat, wie mich dünkt, wenig Zweck, hierüber zu streiten. Gerade
weil alles, was wii' denken, eo ipso gedacht wird, kommt es ausschließ-
lich darauf an, als was wir ein jedes denken; ob als Reales oder als Nicht-
reales, als Physisches oder als Psychisches, als Allgemeines oder Indivi-
duelles, als Bewußtseinseigenschaft oder als etwas nicht mit einer in-
tegrierenden Beziehung zum Bewußtsein Behaftetes usf. Was wir als ein
vom Bewußtsein Unabhängiges, das Bewußtsein selbst Bedingendes denken,
und zwar auf Grund logischer Einsicht denken müssen, wenn wir uns
nicht mit allen Regeln der Wahrscheinlichkeit in Widerspruch setzen wollen.
* Vgl. Aber die Forderung der Bilder wie auch der »begrilTlichen Reinheit« Mach's
»Erkenntnis und Irrtum« S. 227, 246.
Zur Emteihmg der Wissenschaften. 19
das eben pflegen wir objektiv -real zu nennen. Wer aber die zopfigere,
pleonastische Ausdi-ucksweise vorzieht oder es besonders tiefsinnig findet,
sämtlichen Gegenstanden unseres Denkens und Sprechens noch den Index
»Gedachtes« anzuhängen, mag auch dabei bleiben. Irgendein Problem
wird er damit nicht lösen. Worauf es im vorliegenden Fall ankommt, ist
nur dies, daß Naturgesetze sich eben auf jene begrifflich konstruierten
Gegenstande beziehen, die wir voraussetzen müssen, und zwar an wechseln-
den Punkten des vorausgesetzten idealen Raumes voraussetzen müssen, um
den Gang der Erscheinungen zu verstehen und zu beherrschen. Wird dies
zugegeben, so ist die gegenwärtige Angelegenheit erledigt.
Die Naturwissenschaften außer der Physik und physikalischen Chemie
haben in der Definition ilirer Gegenstände die spezifisch -siimlichen Merk-
male noch nicht in demselben Maße abgestreift und werden sie för die
Beschreibung ihrer Einzelobjekte, wie der Mineralien, der Pflanzen und
ilirer Teile, niemals entbehren können. Aber die obige allgemeine Definition
physischer Gegenstände umfaßt alle diese besonderen Gegenstände. Sie
hindert nicht, dieselben voneinander durch sekundäre Merkmale abzu-
grenzen, die aus der Wii*kung auf unsere Sinne hergenommen sind. Auch
die Lebewesen sind in räumlich -zeitlichen Verhältnissen angeordnete Träger
gesetzlicher Vei-anderungen. Wenn die Neovitalisten leugnen, daß physi-
kalisch-chemische Kräfte im gewöhnlichen Sinne hini*eichen, die Geheim-
nisse des Lebens zu entschleiern, und weim sie dafui- Dominanten oder
Entelechieen fordern, so können sie darunter unbescliadet aller Besonder-
heiten doch zuletzt auch nur im Kaum und in der Zeit wirksame Kräfte
verstehen, deren Erfolge als räumliche Massen Verteilungen oder chemische
Umwandlungen auftreten , und zwar unter gleichen Bedingungen in immer
gleicher Weise». Und so wird nichts im Wege stehen, auch auf orga-
nisierte Gebilde den obigen allgemeinen Begriff des Physischen anzuwenden.'
' Es gibt allerdings auch eine Form des Viulismus — man könnte sie animisiischen
oder Psycho- Vitalismus nennen — , die es für unvermeidlich hilt, bei allen organischen
Prozessen geradezu das Eingreifen psychischer Faktoren (Unterscheidungsfihigkeit, Urteil,
Wollen von Zwecken und Mitteln) anzunehmen. Die selektiven Funktionen, z. B. die An-
passung der Abscheidungsprodukte der MagendrOsen an die verschiedenen in den Speise-
kanal eingeführten oder auch nur dem Gesichtssinn dargebotenen Stoffe (Pawlow), kann
man dafür schwerlich beweisend finden, da Selektion und Anpassung auch bei rein physi-
kalischen Vorgängen, wie der akustischen und elektrischen Resonanz, stattfinden. Auch
der Versuch, die Schwierigkeiten dtM- Entw ick elungsl ehre durdi Voraussetzung psychischer
3*
20 Stumpf:
Wir können nun auch ganz einfach sagen: Naturwissenschaft ist die
Wissenschaft, der Körperwelt oder der Materie oder der Natur, ohne den
Vorwurf der Tautologie zu förchten, nachdem die Ausdrücke vorher er-
läutert sind.
2. Geisteswissenschaften.
Während die Gegenstände der Natui^wissenschaften aus den Erschei-
nungen nur erschlossen sind, liefert das zweite Glied der fundamentalen
Unterscheidung, die psychischen Funktionen, ohne weiteres so, wie es ge-
geben ist, das Material fiir die Gegenstände der Geisteswissenschaften.
Ich sage nicht: die Gegenstände selbst, sondern: das Material dazu.
Schon indem wir die bestimmten, jedem augenblicklich gegebenen Funk-
tionen als »psychische Funktionen« bezeichnen, bilden wir einen Begriff
davon imd erheben sie zu Denkgegenständen. Sie sind objektiviert in
dem schon besprochenen Sinne. Außer von den eigenen augenblicklichen
Fimktionen des sie wahrnehmenden und denkenden Subjekts sprechen wir
aber auch von seinen vergangenen Funktionen und von denen anderer
Subjekte. Die Gesamtheit dieser zu Denkgegenständen erhobenen Funk-
tionen bildet den Gegenstand der Geisteswissenschaften. Die eigenen ver-
gangenen und die fremden (gegenwäitigen und vergangenen) Funktionen
sind hierbei allerdings nur erschlossen, insofern vergleichbar den Gegen-
ständen der Naturwissenschaft.* Trotzdem bleibt ein wesentlicher Unter-
schied der erkenntnistheoretischen Dignität. Dort, in den Naturwissen-
schaften, hat sich sogar das Material, aus dem das Denken die Gegen-
stände ursprünglich bildete, die Sinneserscheinungen, als unadäquat er-
Krafle in den bezüglichen Gebilden zu lösen, wie ihn namentlich der Zoologe A. Pauly
kürzlich unternommen hat (Darwinismus und Lamarekismus 1905), dürile nach anderen
Richtungen wieder in ebenso große Schwierigkeiten hineinführen. Aber nehmen wir einmal
an, die Erklärungsweise wäre allgemeh) als die einzig fruchtbare und befriedigende akzeptiert,
so wurde damit nur das Zusammenwirken von Psychologie und Physiologie, wie es für die
nervösen Zentralorgane tatsächlich stattfindet, auf alle Kapitel der Biologie ausgedehnt
werden. Es wurde aber nicht nötig sein, den BegrifT des Physischen selbst durch Aufnahme
psychischer Merkmale zu bereichern.
* J. VoLKKLT nimmt (Ztschr. f. Philosophie u. philos. Kritik Bd. 118, S. i f.) für die
Erinnerung an das früher Erlebte eine unmittelbare Gewißheit in Anspruch. Ich kann dies
nur ftir das unwissenschaftliche Bewußtsein zugeben, das auch der Außenwelt einen un-
mittelbaren Glauben entgegenbringt. Die wissenschaftliche Erkenntnis der eigenen Vergangen-
heit kann sich nur auf Schlösse stützen.
Zur Einteilung der Wissenschaften- 21
wiesen , man mußte sich auf ganz abstrakte Definitionen zurückziehen. Hier
hingegen ist man dabei geblieben und wird dabei bleiben, daß das erschließ-
bare eigene psychische Leben vor dem gegenwärtigen Moment, sowie das
fremde psychische Leben, das wir aus seinen Äußerungen mit annähernder
Sicherheit erschließen können, qualitativ dem unmittelbar gegebenen gleich-
artig ist. Wenn aber die Schlüsse wegen der mangelnden sprachlichen Ver-
stSndigung und der abnehmenden Analogie der sinnenfXlligen Äußerungen
beim Herabsteigen in der Tierreihe imsicherer werden , so kann man hier
doch auch nur auf eine in gleichem Maße abnehmende qualitative Gleich-
artigkeit, nicht auf völlige Unadäquatheit mit dem unmittelbar gegebenen
Seelenleben schließen. Es liegt hierin doch ein gewaltiger erkenntnis-
theoretischer Vorzug gegenüber den Naturwissenschaften, der sehr wohl
als Ausgleich ftir die Unmöglichkeit raumlicher Maßbestimmungen ])eim
Psychischen gelten k^mn.
Staats- und (Jesellschaftswissenschaft, Sprach-, Religion«-, Kunst-
wissenschaft usf. sind Wissenschaften komplexer psychischer Funktionen,
Psychologie die Wissenschaft der elementaren psychischen Funktionen.
Komplex sind die Betätigungen, aus denen soziale trebilde entspringen,
in doppelter Beziehung: einmal sofern sie schon in jedem beteiligten Einzel-
wesen das Zusammenwirken aller Seiten des psychischen Lebens, wie sie
die Psychologie unterscheidet, voraussetzen, dann weil das Zusammen-
wirken vieler Individuen daiur wesentlich ist, und eben dadurch auch der
einzelne erst den Reichtum individuellen Lebens empfangt, der ihn zu
weiterem Zusammenwirken ausrüstet.
Indem Geisteswissenschaften von psychischen Funktionen handebi, han-
deln sie damit von den Trägem psychischer Funktionen. Denn ganz ebenso
wie bei den Gegenstanden der Naturforschung gibt es keine Eigenschaft.,
keine Veränderung, Tätigkeit, Kraft für sich allein; stets und notwendig
findet sich eine jede nur als Teil eines Ganzen, das wir Ding (körper-
liches — seelisches Ding) nennen und als Subjekt oder Träger der vorher
unterschiedenen Eigenschaften, Tätigkeiten usf. auffassen.' Hierbei kann
dahingestellt bleiben, ob es richtig ist, beiderlei Dinge als kausal verknüpft
zu denken, oder ob man das körperliche imd das seelische Ding als das-
^ Man kann auch irgendeinen besonders wesentlichen, konstanten Teil (Eigenschaft
usw.) als Trftger der übrigen auffassen. \'an diesen Feinheiten in der Ausdeutung des
SubstanzbegrifTes mögen wir hier absehen.
22 Stumpf:
selbe fassen, d.h. physische und psychische Funktionen wieder als ein
Ganzes höherer Ordnung zu einer substanziellen Einheit verknüpft denken
muß. Dieser Streit wird von der Definition der Natur- und der Geistes-
wissenschaft besser fem gehalten.
Wir scheiden sie also durch die physische und die psychische Be-
schaffenheit ihrer Gegenstände, einerlei welches Verhältnis diese zueinander
haben. Und wiederum brauchen wii- nicht den Vorwui-f der Tautologie
zu furchten , wenn wir nach diesen Erläuterungen einfach sagen : Geistes-
wissenschaft handle vom Geist (bzw. von der Seele, falls man »Geist« nur
fiir die höheren Formen des psychischen Lebens nimmt). Man muß sich
nur immer jene Unterscheidung der psychischen Funktionen von den Er-
scheinungen und ihre gegenseitige relative Selbständigkeit gegenwärtig
halten, die bei früherer Gelegenheit ausfuhrlich erörtert worden ist; eine
Tatsache, die wir als zusammenfassenden Ausdruck des Ergebnisses zahl-
reicher Einzeluntersuchungen betrachten, die aber mit einer Behauptung über
das Verhältnis von Leib und Seele, Ich und Außenwelt, Erscheinung und Ding
an sich u. dgl. nichts zu tun hat. Auf dieser richtig verstandenen Tatsache ruht
zuletzt der richtig verstandene Unterschied von Geistes- und Naturwissenschaft.^
Eine Bemerkung muß jedoch mit Rücksicht auf jene frühere Unter-
suchung hinzugeftigt werden. Die Ansicht, die wir dort vertraten und
' Gegen Wundts Lehre, daß der Unterschied nicht in den Objekten, sondern nur
in den Gesichtspunkten der Betrachtung liege, hat E. Mbumann Einwendungen erhoben, die
mir durch Wundts Gegenbemerkungen nicht entkräftet scheinen (Archiv f. d. gesamte Psycho-
logie II, Literaturbericht 29 f., Abhandlungen 333 f.).
Nicht ganz Qbereinstimmen kann ich in diesem Punkte mit Husserls Auseinander-
setzungen (Log. Unt. II, 336 f.). So richtig er auch hier die Bedeutung des Gegenstands-
begriffes hervorhebt, so ist das Unterscheidende zwischen Naturwissenschaft und Psychologie
doch nicht hierin zu finden, sondern in dem Material, das zur Gegenstandsbildung ver-
wendet wird. Auch kann ich den Unterschied des Psychischen vom Physischen nicht darin
erblicken, daß vom Psychischen adäquate Anschauung möglich ist, vom Physischen nicht.
»Kein Korper ist innerlich wahrnehmbar — nicht weil er »physisch* ist, sondern weil z. B.
die dreidimensionale Raumform in keinem Bewußtsein adäquat anschaubar ist. Adäquate
Anschauung ist aber dasselbe wie innere Wahrnehmung.« Hiernach würde für den Fall,
daß wir ein dreidimensionales Raumgebilde eben so anschaulich vorstellen könnten wie ein
zweidimensionales (was z. B. nach Hering tatsächlich der Fall ist), und daß auch sonst alle
Eigenschaften des physischen Gegenstandes uns anschaulich zu gleicher Zeit vorstellbar
wären, Physik zur Psycholog! (3 werden, was ich nicht zugebe. Es tritt hier Husserls eigen-
tfimliche Lehre ins Spiel, wonach das gegenstandliche Denken dadurch charakterisiert ist,
daß es auf mehr gerichtet ist, als wir augenblicklich aktuell vorstellen (s. o. S. 7).
Zur Einteilung der Wissenschaften. 23
auch hier in Erinnerung bracliten, daß psychische Funktionen (unter be-
stimmten Bedingungen) in sich selbst wahrnehmbar seien: diese Behaup-
tung wSre allenfalls fiir den Zweck der Scheidung der Wissenschaften ent-
behrlich. Wer sie nicht teilt, wurde das, was fiir die vergangenen und
die fremden psychischen Funktionen ohnedies gilt, filr psychische Funktio-
nen Oberhaupt vertreten: daß sie überall nur aus den Enscheinungen er-
schlossen, d.h. zur Deutung der Erscheinungen vorausgesetzt seien, ganz
(»l>enso wie es mit den physischen Gegenstanden (Kräften, Pi-ozessen) der
Fall ist. Der Unterschied zwischen Natur- und Geisteswissenschaften wJb-e
dann der, daß sie nach vei-schiedener Richtimg schließen, die ei-sten auf
Vorgänge, die den Erscheinungen kausal zugrunde liegen, die letzten auf
Vorgange, die durch die Erscheinungen selbst ins Spiel gesetzt werden.
Auch so ist es ein Unterschied im Gf^genstand ; und daß er wesentlich
genug ist, lehrt die Verschiedenheit der resultierenden Gesetzlichkeiten.
Nicht vorübergehen dürfen wir an dem von Hermann Paul' erhobenen
Bedenken: daß in allen sogenannten Geisteswissenschaften die physische
Seite der Vorgänge eine sehr ausgiebige Rolle spielt und das Psychische
unmöglich gesondert behandelt werden kann. Paul will daher nicht Geistes-,
sondern Kulturwissenschaften den Naturwissenschaften gegenüberstellen.
Die Psychologie gilt ihm dabei gleichwohl für die Kulturwissenschaften als
(rrund Wissenschaft im vorhererwähnten Sinne. Aber sie habe eben in
gleicher Weise das Physische mitzuberflcksichtigen und tue dies gegen-
wärtig in solchem Maße , daß sie zur Hälfte Naturwissenschaft geworden sei.
Das Sachliche hieran ist ganz unbestreitbar. Das psychische Leben
ist durchweg auf dem Physischen aufgebaut imd in jeder uns bekannten
Einzelleistung davon unabtrennbar, während andrerseits das Physische sicher-
lich in weitestem Umfang , nach Ansicht vieler sogar allgemein, ohne jede
Rücksicht auf psychische Funktionen nach Struktur und Gesetzlichkeiten
untersucht und dargestellt werden kann. Ein Blick etwa auf Mineralogie,
daim auf Nationalökonomie, zeigt die ungemischte Natur der ersten, die
gemischte der zweiten Disziplin.
Dennoch scheint es mir vom Definitions- Standpunkt aus zweck-
mäßiger, die alte Scheidung und das alte Merkmal beizubehalten. Daß
man das psychische Leben nicht ohne die physische Grundlage des Orga-
• Prinzipien der Sprachgeschichte, zuerst 1880.
24 Stumpf:
iiismus und der Umgebung verstehen kann, und daß die nächsten Ziele
geistiger Tätigkeit auch wieder zum gi'oßen Teil im physischen Gebiete
liegen, in Siedlungen, Stadtegiiindungen , Besitz- und Ländei-verteilung,
stehenden Heeren und Schießgewehren, in Sprachschöpfungen und Bild-
werken, in der Gesamtheit der äußeren Lebensgestaltung, das lehrt jeder
Schritt und Tritt innerhalb der Geisteswissenschaften. Aber es braucht
niclit notwendig in ihrer Definition zu stehen. Zur Definition genügt und
empfiehlt sich das knappste Unterscheidungsmerkmal. Auch in der Durch-
fuhining zeigt sich doch, daß das Primäre, die Wurzel aller jener Betäti-
gungen, auf welche die Theorie und Geschichte der Sprache, Religion,
Kunst, Staats- und Kechtsbildung sich bezieht, im psychischen Gebiete
liegt, in Wahrnehmungen, Vorstellungen, Gemütsbewegungen, Trieben,
Willensentschlüssen. Endlich scheint mir der Ausdruck »Kidturwissen-
schaften« gegenüber den Naturwissenschaften leicht zu einer Mehi'deutig-
keit zu fuhren. Im Begriffe der Kultur, wie er nun einmal allgemein ver-
standen wird, liegt das Merkmal einer Tendenz zur Entwicklung von
Werten. Diese Tendenz mag mit dem psychischen Leben in seiner höheren
Ausbildung, zumal mit dem sozialen Leben höherer psychischer Individuen,
natumotwendig verknüpft sein; aber sie ist, logisch betrachtet, ein hinzu-
kommendes, abgeleitetes Merkmal. Das Primäi'c bleibt doch eben die
psychische Natur der Funktionen. Danun klingt es auch wunderlich, die
Psychologie als Kulturwissenschaft zu bezeichnen, und doch müßte sie als
die Grunddisziplin dieser ganzen Gruppe kat' ^seoxi^n Kidturwissenschaft
sein, wie Physik kat' ^ioxAn Naturwissenschaft ist. In den elementarsten
Funktionen, die sie untersucht, liegen die Vorbedingungen aller Kultur;
zur Wu'klichkeit kommt diese aber erst im sozialen Zusammenleben , das
die Psychologie im engeren und gewöhnlichen Sinne nicht beschäftigt.
Paul selbst ist nicht entgangen, daß die Psychologie es auch mit dem
Seelenleben der Tiere zu tun hat, und daß der Begriff der Kultur eine .
starke Erweiterung erfahren müßte, ima auch die Tiei-psychologie noch
unter den Kulturwissenschaften unterzubringen.
Es genügt daher und ist zweckmäßiger, die Unterscheidung in der obigen
Weise zu vollziehen, wenn man sich dabei bewußt bleibt, daß damit nur der
primäre Gegenstand der Geisteswissenschaften angegeben ist, der zur Abgren-
zung eben hinreicht, nicht der vollständige, und daß schon beim ersten Schritt
jeder Untersuchung physische Gegenstände miteinbezogen werden müssen.
Zfar Einteihmff der Wissenschaften. 25
Da die naturwissenschaftliche Ausgestaltung der neueren Psychologie
auch fiir Windelband und Rickert eines der Motive geworden ist, die alte
Einteilung noch stärker als H. Paul umzuformen (s.u.), so möge über
diesen Punkt sogleich folgendes bemerkt werden. Die Psychologie hat
das Experiment nützlich und nötig gefunden , um die Bedingungen , unter
denen Selbstbeobachtung stattfindet, möglichst genau objektiv festzulegen
und die subjektiven Erlebnisse, die beobachtet werden sollen, systematisch
nach bestimmten Richtungen hin zu variieren. Aber sie betrachtet das Ex-
periment ilberall nur als Einleitung und Unterstützung der subjektiven Be-
obachtung, die nach wie vor entscheidend bleibt, und als äußeren Anlaß der
subjektiven Ei-lebnisse, die nach wie vor ihren Gegenstand bilden. Wenn
sie in Anbetracht der ganzen äußeren Methodik den naturwissenschaftlichen
Fächern unserer philosophischen Fakultäten nahergeriickt ist als den geistes-
wissenschaftlichen, und sogar noch engere FiUdung hat mit medizinischen,
wie Physiologie, Neurologie, allgemeiner Biologie, Psychiatrie, so mag man
über ihre zweckmäßigste Einfugimg in die Fakultäten streiten — Fakultäten
sind bloße Arbeitsgemeinschaften und in ihrer Zusammensetzung und Ab-
j^renzung durch praktische Rücksichten mitbedingt — : ihr Gegenstand wird
dadurch nicht geändert.
Nun muß allerdings zugegeben werden, daß auch in Hinsicht des
Gegenstandes Psychologie und Physiologie in gewissen Teilen stark inein-
andergreifen , da die psychischen Funktionen mit den Prozessen der Hirn-
rinde verknüpft, sind und das DeUül dieser Verknüpfung beide Disziplinen
gleichmäßig angeht, da nicht minder die Funktionen der Sinnes- und Be-
wegimgsorgane auf subjektivem und objektivem Wege zugleich untersucht
werden müssen. Aber warum sollen die Wissenschaften nicht teilweise in-
einander übergreifen, wenn ihre Gegenstände es tun? Veränderte Defini-
tionen bedingt dies noch immer nicht. Auch die natürlichen Arten der
Pflanzen und Tiere weisen Gruppen auf, die verschiedenen Arten gemein-
schaftlich zugerechnet werden köimen, ohne daß die Artdefinitionen ihren
Sinn und Zweck verlieren.
Rickert nimmt besonderen Anstoß daran, daß die Psychologie in ilirer
gegenwärtigen Fonn als (Jrunddisziplin der (Jeisteswissenschaften gelten
solle , wie sie es doch nach der alten Unterscheidung sein nuißte und auch
nacli H. Pauls Modifikation noch sehi wünle. Kein Geschichtsforscher
könne von ihr Gebrauch machen. Für diesen komme allein das unmittel-
Phihs.'hutor. Abh. 1906. V. 4
26 Stumpf:
bare Einfühlen in historische Persönliclikeiten und die Erfahrung des täg-
lichen Lebens in Betracht. Es scheint mir, daß auch hier über den in
die Augen springenden Äußerlichkeiten die Vertiefung der Analyse, die
niclit bloß erstrebt, sondern tatsächlicli schon in erheblichem Grade eiTeicht
ist, und die, wenn nicht direkt, doch auf zahllosen indirekten Wegen in
den Gebrauch der Geisteswissenschaften übergeht, zu gering eingeschätzt
ist. Eine geschäi'fte Kunst psychologischer Zergliederung kann, wenn sie
sich mit jenem persönliclien Ilineinfiihlen a erbindet, der Klarheit und Wahr-
heit historischer ('harakterdarstelhmg zidetzt nur förderlich werden. Auch
muß man in Rechnung ziehen, daß die Psychologie sich erst allmählich
A'on der extremen Vertiefung in die Probleme der Sinneswahmehmung,
die den Anfang ihrer neuen Pjitwicklung bilden mußte, den komplizierteren
und höheren Funktionen zuwendet, die den Kern des geistigen Lebens
ausmachen, besonders den Willensfunktionen. Im übrigen versteht man
ja auch, daß Mißbräuche von Historikern selbst diskreditierend wirken.
Pedantisch -doktrinäre Übertragung von Ausdrücken, die für begrenzte
Erscheinungskreise gebildet sind und selbst da nur vorübergelienden
Wert beanspnichen, auf große geschichtliche Massenerscheinungen macht
eine Darstellung nicht ohne weiteres zur exakt -psychologischen. Es lohnt
sich nicht, über diesen Pimkt, die Bedeutung der neueren Psychologie fiir
die Geisteswissenschaften im allgemeinen, mehr Worte zu machen; er ist
zuletzt Sache der wissenschaftlichen Praxis auf beiden Seiten und regelt sich
von Fall zu Fall.
lY. Neutrale Wissenschaften.
1. Phänomenologie.
Wenn Natur- und Geisteswissenschaften, speziell ilire Grunddisziplinen
Physik imd Psychologie, gemeinschaftlich von den Erscheinungen ausgehen,
keine von ihnen aber bei den Erscheinungen stehen bleibt, sondern die
einen auf die jenseitsliegenden Vorgänge übergehen, die anderen auf die
mit den Erscheinungen verknüpften psychischen Funktionen , beide also nicht
in den Erscheinungen selbst ihren eigentlichen Gegenstand finden: welcher
Wissenschaft kommt die Untersuchung der Erscheinungen als solcher zu?
Praktisch wird sie zur Zeit von Physiologen und Psychologen betrieben,
je nach dem Bedarf ihrer Wissenschaften. Am meisten scheinen sich die
Zur Einteibmg der Wissenschaften. 27
Psychologen Uirer anzunehmen. Früher beschäftigten sich auch Physiker
damit, und jetzt iiocli findet man wenigstens in den physikalischen Lehr-
büchern traditionelle Kapitel über Komplementärfarben, Kontrasterschei-
nungen, Mischungsgesetze, Drei- und Vierfarbentheorie, Klangfarbe, Konsonanz
und Dissonanz u. dgl., obschon alle diese Besonderheiten der Erscheinungen
mit den Dingen außer uns nichts zu tun haben mid tatsächlich in diesem
Zusauunenliang ganz deplaciert sind. Denn für die (Jesetze der Bewegmigen,
auch der oszillierenden Bewegungen, ist es bedeutungslos, was fiir Emp-
findungen und Gefiilüe dadurch in uns liervorgerufen wenlen. Physika-
lisch interessiert nm* die Entstehung mehr oder weniger zusammengesetzter
Wellenformen bei verschiedener En-egungsweise eines 3Iediums , nicht aber
die Weicliheit oder Schärfe oder die Annehmlichkeit oder gar die Wohl-
gefalligkeit einer Klangerscheinung.
Nimmt man es streng mit den vorausgehenden Definitionen, so nmß
die Phänomenologie als eine besondere Disziplin betrachtet werden, die
weder den Natur- noch den Geisteswissenschaften angehört. Daß ihre
prinzipielle Selbständigkeit nicht schon fmher erkannt ist, liegt zum Teil
daran, daß sie in der DurchfiUu'ung eng mit den genannten Disziplinen
verknüpft werden nmß , zum anderen Teil aber auch damn , daß man die
Erscheinungen als etwas genügend Bekanntes , wissenschaftlicher Beschn'i-
bung im allgemeinen nicht Bedürftiges ansah; ähnlich wie man etwa in
der alten Zeit Luft, Feuer, Wasser und Erde unbesehen fui- Elemente nahm.
Wir wissen jetzt, daß hier ein Reichtum von Pi-oblemen liegt. Die
Lehre von den fünf Sinnen ist verschwunden , neue Siime sind aufgedeckt,
die scharfe Abgrenzung der »niederen Sinne« gegeneinander ist dagegen
zweifelliaft geworden. Die weitgreifendsten Verschiedenheiten unter den
Tieren (aus den Organen und den Reaktionen erschließbar), aber auch auf-
fallende tj'pische Abweichungen bei menschlichen Individuen sind fest-
gestellt. Die eigentümlichen (jualitativen Reihenbildungen, wie die natür-
liche Ordnung der Töne in eincT Geraden, die der Farben in einer in sich
zurücklaufenden Kurve, wurden untei-sucht.
Eine Reihe von Fragen kam hinzu, die sich bei allen Sinnen mehr
oder weniger wiederholen: nach den 3Iischungen gleichzeitiger Eindrücke,
nach den an Sinneserscheinungen zu unterscheidenden Bestinmiungsstücken
(Qualität, Stärke usf.), nach den Verhältnissen \o\\ Ähnlichkeit, Steige-
rung, Verschmelzmig usf. , die zwar nicht selbst Erscheinungen, aber mit
f
28 Stumpf:
und in denselben gegeben und zu jeder Beschreibung unentbehrlich sind.
Weiter nach den sogenamiten qualitativen Richtungsänderungen (vermittels
deren G. E. Mullek mit Recht den Begriff der »Hauptfai-ben« definiert);
nach den auszeichnenden Eigenschaften der konsonanten Toninter\^alle und
etwaigen Parallelerscheinungen auf anderen Gebieten; nach den Unter-
schieden zwischen Erscheinungen erster und zweiter Ordnung (Empfin-
dungen und bloßen Vorstellungen), soweit nicht ftmktionelle Unterschiede
hier beteiligt sind; nach der Natur der sinnlichen Annelunlichkeit und
Unannehmlichkeit (ob sie als eines der Bestimmungsstücke der Ei-schei-
nungen oder als besondere Erscheinmigsklasse oder als Funktionen anzu-
sehen sind).
Ferner galt es, die Eigenschaften des sinnlich -anschaulichen Raumes,
des Gesichts- und Tastraumes, aufzuzeigen, die sich mit den postulierten
Eigenschaften des geometrisch -physikalischen Raumes keineswegs decken,
sowie den Unterschied der Raumvorstellungen verschiedener Sinne unter-
einander (wie deim selbst die Töne lokale und quantitative, wenngleich
nicht meßbare Bestimmungen aufweisen). Es entstand die noch schwierigere
Aufgabe einer rein deskriptiven Untci'suchung der Zeitvorstellung und ihrer
Derivate, einer Analyse der Bewegungsvorstellungen, die Frage nach dem
Vorkommen wahrer und strenger Stetigkeit im Erscheinungsgebiete, und
so noch viele andere.
Überall liegen hier innerhalb des Erscheinungsgebietes selbst auch Ge-
setzlichkeiten. Nicht etwa Gesetze der Sukzession (Kausalgesetze) — denn
solche gibt es, wie gesagt, im Erscheinungskreise selbst nicht — , sondern
immanente Strukturgesetze. Daß sie teilweise sogar die Anwendung mathe-
matischer Begriffe und Operationen gestatten, ist bereits im 18. Jahi-hmidert
von Lambert, im 19. zuerst von H. Grassmann bemerkt worden.
Von Grasshanns Ausdehnungslehre angeregt, veröffentlichte W.Preykr 1877 -Elemente
der reinen Empfindungslehre« ganz im Sinne einer reinen Phänomenologie, wenn auch im
einzelnen sehr angreifbar. Helhholtz definierte den Begriff »Kürzeste Linien im Farben-
system«, Sitznngsber. d. Berl. Akad. d. Wiss., 17. Dezember 1891, Ztschr. f. Psychol. III, S. 108.
Meinong erweiterte solche Betrachtungen zum Begriff einer »Farbengeometrie«, Ztschr. f.
Psychol. XXXIII , S. I f. Bezüglich der Tone darf ich vielleicht auf die Erörterung in meiner
Tonpsychologie 1 , 142 verweisen (Z. 14 muß es abery^ statt yx und Z. 19 ory statt xz heißen).
Besonders wichtig ist dabei die schon von Uerbart betonte allgemeine, auch auf Qualitatives
anwendbare, Bedeutung des Ausdruckes »zwischenliegend«. Ferner gibt es eine rein
qualitative Algebra der Intervalle, gemäß den in meinen und K. L. Schaefers »Tontabellen«
(1901) entwickelten Formeln. Hierbei handelt es sich keineswegs, wie in früheren Dar-
Zur Einteilung der Wissenschaften. 29
stell II Dgeo , tim eine Algebra der Scliwingungszahlverhältnisse, die den Intervallen 7«ugeh5ren,
sondern um algebraische Operationen, durch die ohne jede Kenntnis dieser Zahlenverhalt-
nisse aus einem gegebenen Ton ein beliebiges musikalisches Intervall, z.B. die übermäßige
Quart, gewonnen wird. Die Formel Q= T.t besagt, daß man zur Quinte kommt durch zwei
mit ihren Grenztonen aneinandergefügte Terzen, eine kleine und eine große, deren Reihen-
Q
folge aber gleichgültig ist. Ebenso ist es bei der Formel — für die große Sekunde gleich-
gültig, ob man den Quintenschritt aufwärts (Q im Dividendus) zuerst vollzieht, dann den
Quartenschritt abwärts (q im Divisor) oder umgekehrt. Man kann natürlich diese Formeln
auch zur Berechnung der resultierenden Zahlenverhältnisse und Schwingungszablen benutzen.
Aber sie haben Sinn, Gültigkeit und Anwendbarkeit auch ganz abgesehen davon, auch ftir
den , der von den Proportionen der Intervalle nichts wüßte imd sie nur als Tonerscheinungen
durch den Gehörsinn kannte. Es ist also hier eine ähnliche Übertragung algebraischer
Operationen auf Qualitatives möglich, wie etwa in der neueren Physik bei der Addition
und Subtraktion von Vektoren. Nach kürzlich veröffentlichten brieflichen Äußerungen
WiLnLM Wkbbrs hat auch ihm bereits derartiges vorgeschwebt Er schreibt an Fbchnbr 1850:
•In Ihrem jetzigen Gebiete (der Empfindungsmessung) ist die Entdeckung solcher Fakta«
(die mit Fbchners Ideen zusammenträfen) -vielleicht sehr unwahrscheinlich, aber doch mög-
lich, wie vorhandene Fakta beweisen, z.B. daß Quinte und Quarte sich zur Oktave, große
Terz und kleine Terz genau zur Quinte ergänzen, die, auf unmittelbarer Ton-
empfindung beruhend, von akustischen Theorien unabhängig dastehen.«
(G. F. Lipps, Zwei Briefe usw. Sitzungsber. d. kgl. Sachs. Gesellsch. d. Wiss., Math.-phys.
Kl. Bd. 57. S. 393.)
Es erscheint nicht ausgeschlossen, daß bei einer Umwandlung unserer mechanischen
Weltanschauung in abstraktere Formen , wie sie jetzt vielfach in Aussicht genommen wird,
dergleichen innerhalb des rein qualitativen Erscheinungsgebietes vorkommende gesetzliche
Beziehungen von Bedeutung würden. Von vornherein ist es ja nicht so selbstverständlich,
wie die Kantianer meinen, daß alle Naturgesetzlichkeit sich nur mit den Anschauungen
von Raum und Zeit ausdrücken lasse. Diese haben sich vorzüglich brauchbar erwiesen,
und man wäre töricht, sie um ein Linsengericht zu verwerfen. Aber prinzipiell haben sie
keinen Vorrang vor irgendwelchen anderen Daten des Erscheinungsgebietes. Hbthars
spricht in diesem Sinne von einer denkbaren »akustischen Weltanschauung* , in der alle
Verhältnisse des physischen Geschehens als Tonverhältnisse ausgedrückt wären (Einführung
in die Metaphysik 1905« S. 178 f.). Desgleichen Binbt (L*Ame et le Corps 1905, S. 38 f.).
Ich wies mehrfach auf solche Möglichkeiten hin (Tonpsych. I, Vorrede S. VII, S. loi ;
II, S. 213. Psychologie und Erkenntnistheorie S. 504). Und bereits Lotzb benutzte mit
Vorliebe, um die bloß symbolische Beschaffenheit der lüumlichen Vorstellungs weise zu ver-
deutlichen, die Ersetzung des räumlichen Bildes durch das einer unräumlichen und doch
aufs feinste abgestuften Tonwelt. Neuerdings hat man sogar die qualitativen Verhältnisse
der Gerüche zu gleichem Zwecke herangezogen. Alles dieses hat aber vorläufig doch nur
den Sinn und Nutzen, uns gegenüber aprio ristischen Erkenntnistheorien in physikalischen
Dingen die wünschenswerte geistige Freiheit zu verschaffen. Praktische Anwendungen in
der physikalischen Forschung kommen nicht in Frage.
Mit Gesetzen psycliisclier Funktionen haben diese Erscheinunpsgesetze
nichts zu tun. Aus den Bedingungen der Analyse und des Zusanunen-
30 Stumpf:
fassens, der Affimiation und Negation, des unmittelbaren und mittelbaren
Erkennens, des Begehrens und Verabscheuens, Zwecksetzens, Vorziehens
läßt sich keine der Eigenschaften des Farben- oder Tongebietes ableiten.
Die Eigenschaften entstehen ja nicht durch die Betätigung jener Funk-
tionen, lösen viehnehr die Funktionen aus und bestinmien ihre Richtung.
Die Erscheinungen sind uns mit ihren Eigenschaften gegeben , stehen uns
als etwas Objektives, Eigengesetzliches gegenüber, das wir nur zu be-
schreiben und anzuerkennen haben. ^ Es kommt wohl vor, daß die Funk-
tionen rückwirkend die Erscheinungen selbst verändern (wie z. B. dimjh
eine konzentrierte Aufmerksamkeit die Intensität eines sehr schwachen
Sinneseindruckes oder eines bloßen Vorstellungsinhaltes bis zu einem ge-
wissen Grad erhöht werden kann). Aber im allgemeinen findet solche
Rückwirkmig nicht statt, und wo sie stattfindet, hält sie sich innerhalb
der Möglichkeiten, die durch die eigene Natur der Erscheinungen vor-
gezeichnet sind. Wir können z. B. mit aller Anstrengung der Aufmerk-
samkeit dem Anschauimgsraume keine neue Dimension hinzufügen, einen
einfachen Ton nicht in zwei verwandeln, kernen Übergang zwischen Farben
imd Tönen erfinden, nicht eiimial einen dii-ekten Übergang zwischen Blau
imd Gelb (ohne Vemiittelung von Rot oder Grün).
^ Vgl. Meinono, Zeitschrift für Psycliologie XXXIII, 3: >\^on Natur sind die Farben
so wenig psychisch wie die 0]*te oder selbst die Zahlen; und so wenig Geometrie oder
Arithmetik deshalb Psychologie ist, weil die Großen, mit denen sie operiert und deren Rela-
tionen sie feststellt, zu diesem Ende natürlich vorgestellt werden müssen, so wenig ist es
an und für steh bereits Psychologie, wenn man feststellt, daß die Farben eine mindestens
dreidimensional ausgedehnte Mannigfaltigkeit ausmachen« usw. Die Subsumtion dieser
»Farbengeometrie« und der Mathematik selbst unter den Begriff einer * Gegenstandstheorie«
kann ich allerdings nicht glücklich finden. S. darüber unter Nr. 3.
Was ich > Tonpsychologie« nannte, sollte keineswegs eine Phänomenologie der Töne
sein, sondern eine »Beschreibung der psychischen Funktionen, welche durch Töne an-
ger^ werden«. Damals übrigens erschien mir die Bildung dieses Ausdruckes bereits als
eine gewagte Abbreviatur, nur dadurch zu rechtfertigen, daß die deutache Sprache
derartige Zusammensetzungen gestattet, die erst durch eine Definition ihren bestimmten
Sinn erhalten. «Psychologie des sons« könnte man nicht sagen. Eine Psychologie der
Töne kann es eben nicht geben, nur eine solche der Tonwahrnehmungen, Tonurteile,
Tongefühle.
Neuerdings polemisiert A. Pfander in seiner »Einführung in die Psychologie« 1904,
S. 43 in drastischer Foitn gegen die V^erwechslung der Psychologie mit dem Studium der
bloßen Erscheinungen, die er als «Abfalle der physischen Welt« und in sich selbst als etwas
Physisches bezeichnet.
Zur Einteilung der Wissenschaften. 31
Elier kann man die Strukturgesetze der Erscheinungen auf physio-
logische Erkläningsgründe zurückfiihrbar denken. Angenommen, wir er-
langten einmal eine sogenannte astronomische Kenntnis der Gehimprozesse,
an die Farben, Töne usw. geknüpft sind, so müßten unter der Voraussetzung,
daß die Erscheinungen diesen Prozessen genau parallel gehen, alle gesetz-
lichen Verhaltungs weisen der Erscheimmgen aus jener Kenntnis ableitbar
werden. Dahin zielende Hypothesen finden sich jetzt schon gelegentlich,
so z. B. in (t. E. Müllers physiologischer Tlieorie der Farbenerscheinungen.
Denkt man sich solche allseitig vollendet und erwiesen , so wünle die Phäno-
menologie mit diesem deduktiven Unterbau zugleich eine viel größere All-
gemeinheit und innere Verknüpfung ihrer Sätze erhalten. Ihr Gegenstand
wäre aber nach wie vor von den Gehinivorgängen selbst verschieden, und
sie wüinle keineswegs zu einem bloßen Kapitel der Physiologie. Denn
wunlen auch die (fesetzlichkeiten iimerhalb der einzelnen Sinne physio-
logisch deduzierbar, so bliebe doch die Eigenart der Qualitätenkreise
(der Modalitätsunterschied nach IIelmholtzcus Aus<lrucksweise) unableitbar.
Augenblicklich aber ist die Phänomenologie nicht bloß eine selbstänilige
Wissenschaft bezüglich des Gegenstandes, son<lern auch bezüglich fast
aller Aussagen, die über den (gegenständ gemacht werden können: sie
können eben vorläufig nur direkt auf die Beobachtung des (iegenstandc^s
begründet werden.
In dieser Hinsicht ist immer noch das Geben auf Seite der Phäno-
menologie und das Nehmen auf Seite der Physiologie. Hering hat mit Recht
betont, daß das Erste in der Farbentheorie die Analyse und Beschreibung
der J^scheinungen, das Zweite erst die Aufstellung von Hypothesen über die
ihnen entsprechenden organischen Prozesse sein muß. Wenn neuerdings
J. V. Kries diesem Weg eine gewisse Skepsis entgegenbringt \ so beziehen
sich seine Bedenken, genau betrachtet, doch nur auf die zwingende Krall
gewisser Ül)erlegungen , die bei der Aufstellung der Hj-pothesen mitwirken.
Die von ilim gezogenen Schlüsse aus den Tatsachen der Farbenblindheit und
der Helligkeits Verteilung im Spektrum auf die Netzhautprozesse nehmen
doch prinzipiell denselben Weg. Vor allem aber liefern filr die zenti*alen
Vorgänge bei der Sinnesempfindung und bei den Assoziations Vorgängen,
wenn man überhaupt etwas darüber sagen will, die subjektiv beobachteten
' W. Nagrlü Handbuch der Physiologie 111,1, S. 143 ti. u.
32 Stumpf:
Erscheinungen weit melir Anhaltspunkte als die experimentale Unter-
suchung der chemischen Veränderungen oder die mikroskojnsche Erfor-
schung der Struktui-verhältnisse in den Ganglienzellen der Gehirnrinde,
obschon natürlich alle diese Forschungswege miteinander verbunden wor-
den müssen.
Demnach betrachten wii' die Phänomenologie als eine Disziplin für
sich neben den Natur- und Geisteswissenschaften; vorausgesetzt immer, daß
man die von diesen beiden gegebenen Definitionen zugrunde legt. Al)er
die Trennung bedeutet auch nur eine Trennung der Aufgaben, nicht der
Arbeit. Es gibt eine Phänomenologie, aber keinen Phänomenologen. Die
Lösung der phänomenologischen Aufgaben wird noch auf lange hinaus oder
allezeit Sache der Physiologen und der Expeiimentalpsychologen bleiben.
Das Studium der obigen Fragen erfordert überall das Eingreifen des Ex-
periments zur Veränderung der Reizeinwirkungen auf die Nerven, es er-
fordert aber auch die beständige Verwendung psychologischer Begriffe und
Kenntnisse. An der Verteilung der Arbeiten wird also durch die An-
erkennung des selbständigen Gegenstandes nichts geändert. Dennoch ist
es nützlich, sich der Verschiedenheit der spezifisch psychologischen, der
physiologischen und der phänomenologischen Aufgaben bewußt zu bleiben.
2. Eidologie.
Es ergibt sich aber aus den friiheren Erwägungen^ noch eine weitere
Aufgabengi-uppe , die ihrer Natur nach keiner der bisher erwähnten Dis-
ziplinen zugehört: die Untersuchimg der »Gebilde«. Also die Lehre von
den Begi'iffen, ihrem Verhältnis zu den Erscheinungen und zueinander;
dann die Lehre von den Inbegriffen, speziell den Fonnen, worüber sich
mancherlei allgemeine Sätze werden aufstellen lassen; weiter die Lehre
von den Sachverhalten in allen ihren formalen Eigenschaften und gegen-
seitigen Beziehungen, z. B. vom Unterschiede der Tatsachen und der Ge-
setze, der unmittelbaren und mittelbaren Wahrheiten, der einfachen und
der in verschiedener Weise zusammengesetzten Sachverhalte, vom Zu-
sammenhang und Bedingungsverhältnis der Saehverlialte, kurz alles, was
man in der Logik als Eigenschaften und Unterschiede von Urteilen ihrem
* Erscheinungen und psychische Funktionen S. 28f.
Zur Einteilunff der Wissenschaften. 33
Inhalte nach, sowie als Schlußregeln aufzuzählen pflegt.' Endlieh aber
auch die Lehre von den Werten, ihren allgemeinsten Klassen, ihren Zu-
sammenhängen, ihrem System (Gütertafel).
Die Gesamtheit dieser Untersuchungen, die Wissenschaft der Gebilde,
der sachlichen Korrelate psychischer Funktionen, können wir als Eidologie
bezeichnen. Der Name mag und soll an die platonische Ideenlehre er-
innern. Die Untersuchungen decken sich in der Tat mit denen, die Plato
im Sinne hatte und in Angriff nahm, weimgleich nicht mit seinen meta-
physischen Folgerungen. Der gegenwärtigen Philosophie hat sich die Not-
wendigkeit, die Gebilde sowohl von den Erscheinimgen wie von den Funk-
tionen zu unterscheiden, am handgreiflichsten in Sachen der Logik und
Erkenntnistheorie föhlbar gemacht. Der innere Nexus eines logischen
Schlusses ist lediglich bedingt durch den Inhalt der Prämissen und des
Schlußsatzes. Die Schlußregeln sind nicht Kausalgesetze der Entstehung
und Aufeinanderfolge von Urteilsakten , sondern Strukturgesetze von Sach-
verhalten. Die logische Notwendigkeit ist nicht identisch mit der psycho-
logischen.* Aber auch die Probleme einer allgemeinen Wertlehre sind
schärfer gestellt, und ihre Durchführung ist versucht worden. Ks handelt
sich darum, ob überhaupt von unbedingt Wertvollem gesprochen werden
kann, ob darunter bestimmte Gegenstände im früher erläuterten Sinn, etwa
bestimmte gegenständlich betrachtete psychische Zustände (Erkenntnis, Liebe)
zu verstehen sind, wie die Güterlehre will, oder nur formelle Eigenschaften
psychischer Funktionen (Kants kategorischer Imperativ verlangt formale
Übereinstimmung des WoUens mit einem allgemeinen Gesetz, Herbarts
praktische Ideen ebenso gewisse formale Eigenschaften des Wollens); femer
welche allgemeinste Verhältnisse zwischen Werten bestehen (primäre — ab-
geleitete Werte, Einschluß, Antagonismus oder gegenseitige Hebung u. dgl.);
ob es qualitativ unvergleichbare Werte gibt, wie etwa das Edle und das
Gefällige (ICant) und unter diesen wieder spezifisch verschiedene Klassen;
ob quantitative Bestimmungen und Vergleichungen möglich sind, selbst })ei
* Die soeben charakterisierte Untersuchung, das Studium der inneren Struktur der
Denkinhalte als solcher, abgesehen von den zufilligen Denkakten, ist es, was Husskrl als
•Reine Logik* bezeichnet
' Da in meiner Abhandlung «Psychologie und Eiicenninistheorie* dieser Unterschied
ausdracklich hervorgehoben und die Begründung der Logik auf Psychologie abgelehnt ist
(s. bes. S. 494f-)» >o befremdet es mich, in Heirzks Grundriß der Geschichte der Philosophie
genau die umgekehrte Angabe Ober die Tendens dieser Abhandlung au finden.
Pkao$.-kuior.Abh. 1906. V. 5
34 Stumpf:
qualitativ Iletcrogenom, und nacli \v olehon (xosiolitspunkton; welchen Sinn
(lic Bogriffo EntwickeUing , Fortschritt l)esitzen. die offenbar auf Wert-
begriffe gel)aut sind (IT. Rickkrt luiterschoidot nicht weniger als sieben
Definitionen des Entwickelungsbegriflfes) usf.
Wenn Fhanz Brentano^ den Ujiterschied von »»unmittelbar und mittelbar
als lichtig cliarakterisiorten« (iefiihls- und Wonensgegenstanden in Ana-
logie setzt zu dem Unterschiede der unmittelbar und mittelbar einleuch-
tenden Wahrheiton. und wenn er demgemäß eine Art von emotioneller
Evidenz lehrt: so zeigt schon die Möglichkeit einer solchen Auffassung
die Verwandtschaft dieser Untersuchungen mit denen der »Reinen Logik«.
p]s sind die inneren sachlichen Zusammenhänge, auf die in beiden Fällen
die Frage zielt , in der Eidologie des Denkens wie des Wollens , nicht al>er
die durch die mannigfaltigsten psychologisclien und selbst physiologischen
Faktoren mitl)edingten Sukzessionen der Denk- und Wollenszustände im
denkenden und wollenden Individuum.
Die von FiriixEschen Gedanken l)eeinflußten Forscher (Rickert, Münster-
iiERCr) pflegen fiir diese rein sachlichen Bedingungen des Denkens wie des
Fühlens und Wollens den Ausdi'uck »überindividuelles« zu gebrauchen. Was
wir Eidologie nennen , heißt ihnen Wissenschaft des Überindividuellen. Ich
vermeide solche Ausdrücke, um nicht sogleich wieder metaphysische (ie-
danken in Mitschwingung zu versetzen, von denen diese Wissenschaft zu-
nächvSt möglichst frei bleiben muß, wie Avahr es auch sein mag, daß man
v(m ihr aus zur Metaphysik weitergetrieben wird.
Nun gilt aber auch hier wie bei der Phänomenologie, daß die I^Vsung
der erwachsenden Aufgaben nicht ohne Hilfe der Naclibardisziplinen er-
folgen kann. Das Scheuklappenrezept A^ersagt überall, wo empirische Zu-
saunnenhänge mitwirken und nicht rein deduktive Erkenntnisse möglich
sind. Begriffe, Inl)egriffe, Sachverhalte und Werte sind nun einmal Gebilde,
die sich nicht irgendwo a}>gesondert in d(^r Welt oder an einem ȟbersinn-
lichen Ort« als lur sich seiende Wesen, sondern die sich überall als spezifische
Inhalte psychischer Funktionen finden und nur als solche luitersucht und
beschrieben werdc^n können. Sie existieren nicht als tote Präparate, als
Petrefakten, sondern hu Verbände des lel)endigen seelischen Daseii>s. Die
Forderung einer Logik, Ästhetik, Ethik ohne jede Rücksicht auf Psycho-
Vom Ursprünge sittlicher Erkenntnis 1889.
Zur Einteikmg der Wissensdiaften. 35
logie ist, wie man auch im übrigen die Auigab(*n dieser Wissenszweige
bestimmen mag, schlechthin widersinnig. Weim Erkenntnistheoretiker, wie
l>eson(lers Hussekl, gegen die Vermischung der Psychologie mit der »Reinen
Logik« kämpfen, so haben sie nur die genetische, nicht die deskriptive Psycho-
logie im Auge, welche letztere violmehi' gerade von Husserl in jedem Punkte
herangezogen und zum bevorzugten Gegenstand seiner eindi-ingenden Unter-
suchungen gemacht wird. Die Beschreibung, Unterscheidung, Ivlassifikation
der »Akterlebnisse«, das Studium ihrer feinsten Zusanmienhänge durch-
zieht sein ganzes Werk. Nun läßt sich freilich von der bloßen Deskription die
genetische Psychologie doch auch nicht so vollkommen trennen ,^ wie man
ilire Aufgaben trennen kann und soll/ Aber abgesehen davon: Psycho-
logie ist die eine wie die andere.^
Und nicht allein Psychologie, auch zahlreiche andere Wissenszweige
haben bei der Eidologie mitzuhelfen. Wie wollte man etwa eine allgc*-
meine Theorie der Formen^ und der ästhetischen und ethisch(»u Werte auf-
liauen ohne das umfassende Material der geschichtlichen und ethnologischen
Bildungen? Die Wertlehre hat denn auch schon engen Anschluß mit der
Nationalökonomie gewomien, nicht minder mit der Jurisprudenz und sozial-
geschichtlichen Forschungen. Das Inehiandergreifen aller psychischen Funk-
tionen und das Aufeinanderwirken psyclüscher Individuen unter den ver-
schiedensten äußeren Bedingungen, Avie es die konkreti^n (ieisteswissen-
schaften dai'stellen, liefert allein die Tatsachen, d(*ren sorgfaltige Ana-
lyse, zusannnen mit der Selbstbeobachtung des Psychologen, zu den all-
gcMueinen Begriffen und Sätzen einer Wertlehiv fuhren kann. Ebenso kann
man ja auch (»ine induktive Logik, die reine Logik induktiver Schhiß-
folgemngen , nicht entwickeln, außer auf Grund der Vertiefung in die tat-
' Vgl. auch Husserl selbst 11, 6i8, 634.
' HussxRL nennt die bloße Beschreibung der Akterlebnisse liebei* •Ph&nomenologie
der inneren Erfahrung« (I, 212, II, 4 u. 0.), auch wohl Phinomenologie schlechtweg, utn
desto sicherer der Verwechslung mit der genetischen Psychologie, deren Einfluß er an sich
selbst in Hinsicht logischer Probleme als vei-derblicli empfunden, vorzubeugen. Den Aus-
druck Phinomenologie gebrauche ich hier in anderem Sinne Und mochte • deskriptive Psycho-
logie« f&r die bloße Beschreibung der Akterlebnisse auch darum für zweckmäßiger halten,
weil dodi in der Tat der Gegenstand f&r die descriptive und die genetische Psychologie
gemeinschaftlich ist, nämlich die elementaren psychischen Funktionen, und weil diese Ge*
meinsamkeit durch die Wahl eines gänzlich verschiedenen Ausdruckes verdunkelt wird.
' lYie ich als besondere Kille von Inbegriffen fiuse, s. Erscheinimgen und psych.
Funktioaen S. 28 f*
5^
86 Stumpf:
sächlichen Wege der induktiven Einzelwissenschaften, mag man auch dabei
immer zidetzt auf apriorische Grundsätze stoßen. So wahr es ist, daß
das Seinsollende nicht zusammenfallt mit dem Seienden, so wenig kann
doch die Welt der Werte losgelöst von der Welt der Dinge und ihrer
empirischen Gesetze konstruiert werden.
Man muß hier aber unterscheiden die Quellen eidologischer Erkennt-
nisse und die eigentliche Beweisfilhrung. Ich denke, daß es sich damit
ähnlich verhält wie mit mathematischen Sätzen. Sie werden vielfach durch
Erfahrungen des täglichen Lebens oder durch besondere Beobachtimgen
und Versuche der Aufmerksamkeit des Mathematikers nahegelegt. Aber
den Beweis wird er nicht darauf stützen. Und so dürfte ein vernünftiger
Purismus in dem einen Punkte Recht haben; daß die Schönheit einer
Form, die Wahrheit emes Satzes, die Güte einer Willensrichtung nicht
durch irgendwelche bloß genetische Betrachtungen bewiesen werden kann.
Selbst wenn die ganze Menschheit gleichzeitig von einem Glauben zum an-
deren, von einer Werthaltung zur anderen übergegangen wäre, würde daraus
nicht folgen, daß der spätere Glaube richtiger, das spätere Fühlen reiner
und höher wäre. Entweder kann dies überhaupt nicht bewiesen werden,
oder es bedarf noch anderer und besonderer Prämissen, die aus einem
innerlichen Erfassen, einer intuitiven Evidenz ihre Kraft beziehen. Das
ist der einfache, nichtsdestoweniger bedeutsame Sinn des Protestes gegen
Psychologismus, Historismus, Pragmatismus. Was darüber hinausgeht, be-
deutet einen Rückfall in Fehler der aprioristisch- konstruktiven Philosophie.'
Wieder eine besondere Frage betrifft die Darstellung der Ergebnisse.
Wir wollen annehmen, die eidologischen Disziplinen seien bereits so ent-
wickelt, daß es möglich wäre, ihre Begriffe und Gesetze als gesonderte
Erkenntniskomplexe einheitlich hinzustellen (was nur für die »reine Logik«
bis jetzt in größerem Umfange möglich ist): dann ist es sicherlich geboten,
in solcher Darstellung die rein sachlichen Verknüpftmgen, die von einem
zimi anderen Punkte föhren, herauszuschälen und sie von allen psychologi-
schen, genetischen, historischen Zutaten ebenso zu sondern, wie der Mathe-
matiker historische Erläuterungen und praktische Anwendungen von seinen
Lehrsätzen sondern muß. Aber es ist ein Unterschied: bei der Mathematik
^ Über das Positive wie das Negative in dieser Sache denke ich nicht anders als
U. RicKERT. Vgl. besonders dessen Vortrag «Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft«.
Zur Einteilung der Wissenschaften. 37
bleibt eine solche Darstellung in sich verständlich und von höchstem In-
teresse , sie ist ohne weiteres vollständig. Bei eidologischen Wissenschaften
würde sie für sich allein weder hinreichend verständlich noch besonders
fesselnd sein. Hier müssen in der Darstellung unbeschadet aller begrüF-
liehen Reinheit die Bedingungen, unter denen die Gebilde in Wirklichkeit
auftreten oder in Wirklichkeit übergeföhrt werden, beständig mitberück-
sichtigt werden. Es möchte sich daher nicht empfehlen, Professuren der
reinen Eidologie zu begründen.
8. Allgemeine Verhältnislehre.
Eine dritte Gruppe von Gegenständen, die man weder physische noch
psychische im vorher erläuterten Sinne nennen kann, bilden die Verhält-
nisse. Jede Wissenschaft erforscht spezifische Verhältnisse zwischen ihren
Gegenständen oder den Teilen ihrer Gegenstände. Die entsprechenden, oft
sehr verwickelten Verhältnisbegriflfe werden durch Defuiitionen festgelegt.
Sie enthalten aber einfachste VerhÜtnisbegrilfe, wie Ähnlichkeit, Gleich-
heit, Steigerung, logische und reale Abhängigkeit, Verhältnis von Ganzem
und Teil usf. Diese BegrÜFe bedeuten weder Erscheinungen noch aus
ihnen Erschlossenes noch psychische Fimktionen noch Gebilde. Auch die
KANTSche Bezeichnung »Denkformen« scheint mir irreführend, da es sich
nicht um Eigenschaften intellektueller Funktionen, um Verfahrungsweisen
des Geistes u. dgL handelt. Die Ähnlichkeit ist nicht ein Vergleichen,
das Ganze nicht ein Zusammenfassen, die Abhängigkeit nicht ein Abhängig-
setzen. Vielmehr sind bestimmte ursprüngliche Verhältnisse uns in gleichem
Sinne gegeben wie die Erscheinungen, in imd mit ihnen, oder wie die
Funktionen (wenn es sich um Verhältnisse von Fimktionen unter sich han-
delt), oder wie beide zusammen (wemi es sich um Verhältnisse zwischen
beiden handelt). Sie werden mit wahrgenommen, drängen sich auf; wir
konstatieren sie, schaffen sie aber nicht. Aus diesen ursprünglich gegebenen
können dann erst die verwickeiteren durch Definitionen geschaffen werden.
In vielen Fällen handelt es sich auch wohl , statt um ein Wahrnehmen,
um ein bloßes Annehmen von Verhältnissen. Wir erschließen bestimmte
Relationen, analog denen, die wir bereits durch Wahrnehmung an Er-
scheinungen oder Funktionen kennen, nach gewissen Anhaltspunkten auch
da, wo wir sie nicht direkt beobachten können, im physischen oder im
38 Stumpf:
unbewußt-psychischen Gebiete (natürlich auch im bewußt -psychischen, so-
weit dieses selbst niur erschlössen wird). Aber auch da ist es nicht ein
Schaffen, sondern nur ein Nachschaffen, ein Wirtschaften mit den jsuvor
wahrgenommenen Verhältnissen.
Im Hinblick auf jene allgemeinsten und einfachsten Relationsbegriffe
entsteht nun die Aufgabe , sie vollständig 7ai bestimmen und ihren Ursprung
wie die etwa daran geknüpfte innere Gesetzlidikeit nachzuweisen. Unter
dem »Ursprung» sind diejenigen Erscheinujigen oder Funktionen oder Ge-
bilde zu verstehen, deren Wahrnehmung zugleich das jeweilige Verhältnis
mitzuerfassen gestattet. So bieten uns di(^ Erscheinungen vielföltige Ähnlich-
keiten, Steigerungen, Verschmelzungen, Teilverhaltnisse überhaupt, die»
Sachverhalte Verhältnisse logischer Abhängigkeit u.a., die psychischen Funk-
tionen (w^ie ich mit Beneke glaube) Verhältnisse realer Abhängigkeit. Es
ist nichts weiter als Konzentration des Bewußtseins auf diese Gegenstände
erforderlich , imi konkrete Verhältnisse der genannten Art zu erfassen und
damit die Gi-undlage fiir die Verhältnisbegriffe 7U gewinnen.
Es ist aber auch eine wichtige Aufgabe, die Verhältnisse zwisclien
jenen großen Gebieten selbst, Ei*scheinmigen, Funktionen, Gebilden, fest-
zustellen. Und endlich ist es nötig, die charakteristischen einfachen Re-
lationen aufzusuchen, die nur in einzelnen Gebieten sich finden; beispiels-
weise zu untersuchen: ob nur innerhalb der Erscheinungen und vielleicht
sogar nm- unter einzelnen Klassen derselben solche Verhältnisse vorkonmien,
die die Anwendung von Größenbegriffen und von Messungen gestatten;
ferner: ob das Verschmelzungsverhältnis, das im Tongebiet eine ftmdameii-
tale Rolle spielt, Analoga auf anderen Gebieten hat; nicht minder: pb das
Verhältnis von Erscheinungen und von psychischen Funktionen, die sich
auf sie beziehen , miter irgendein anderes Verhältnis subsumierbar oder ob
es gänzlich sui generis ist, usf.
Diese Aufgaben können, wenn anders unsre friiheren Bestinlmungen
zutreffen, weder der Psychologie noch der Phänomenologie noch der Eido-
logie zufallen , sondern nur einer besonderen Wissenschaft , einer allgemeinen
Verhältnislehre. Uiren Gegenstand bilden also die einfachsten Verhältnisse
auf allen ITaui)tgebieten des menschliclien Erkennens. Gräzisiert . müßte
sie Logologie heißen , wir werden aber hier den deutschen Aufdruck und
entsprechende Umschx*eibungen in anderen Sprachen vorziehen.- Zu 0iner
solchen Verhältnislehre haben Locke und Hume den Giimd gelegt, sie i§t
Zar Einteilung der Wissenschaften, 39
nouenlings von Mkixon(j, Lipps, IIusserl weitergebildet worden. Aber auch
Xatiirforscher und Mathematiker (Ampere, II. Grassmaxn und die Vertreter
der »Algebraischen Logik« oder »Reinen Mathematik« , zidetzt B. Russell)
haben eine wenigstens relativ allgemeine Verhältnislehre. nSmlich för Er-
seheinimgs- und für Begriffsverhältnisse, aufzustellen versuelit.
Die in diesem Abschnitt erläuterten drei Wissenschaften könnte man
in gewissem Sinn als Vorwissenschaften sowohl fiir die Natur- wie lur
die Geisteswissenschaften bezeichnen, und zwar nicht bloß fiir di(* theo-
retischen, sondern auch ftir die praktischen Disziplinen beider Gebiete (so
die Wertlehre fiir die Ethik, Pädagogik, Volkswirtschaftslehre). Sie sind das
Atrium und das Organon jeder anderen Wissenschaft, sofern der Gt'gen-
stand einer jeden ihren Gegenstand einschließt, sofeni jede Forschung
von Verhältnisbegriffen und - gese tzlichkeit^n Gebrauch macht und es daher.
i<leal gesprochen , das Richtige sein würde , sich zuei-st über deren wissen-
schaftliche Legitimation Rechenschaft zu geben. In einer idealen Enzy-
klopädie des Wissens müßte in synthetischer Weise alles, was sich über
Relationen zwischen beliebigen Elementen im allgemeinen sagen läßt, vor-
ausgeschickt werden. Wer dies bewältigt hätte , würde dann mit geschärftxnu
Blick an die Einzeldarstellungen herantreten.
Gleichwohl würde sich dies wegen d(*r außei-ordentlichen Abstraktheit
solcher Sätze didaktisch kaum empfehlen, und der historische Verlauf ist ja
auch der umgekehrte. Jede Disziplin formt die fiir sie maßgebendsten zu-
sammengesetzteren Verhältnisbegriffe zu ihrem Ilausgebi-auch, wandelt die
Definitionen auf Gnmd genauerer Analyse oder Tatsachenkenntnis um, l)edient
sich dabei stets implicite der allgemeinstt*n und einfachsten Relationen , oluie
darüber zu reflektieren , imd sieht sieh erst spät durch auftauchende und immer
wiederkehrende prinzipielle SchT\ierigkeiten zu solcher Reflexion gezwungen.
So sind Streitigkeiten über den Kausal- und Substanzbegriff, über die matlu»-
matischen Gnmdverhfiltnisse , über das Verhältnis der Erscheinungen und
psychischen Funktionen , über <las zwischen erkennendem Subjekt und er-
kanntem Objekt usw. entstanden. T^nd so wurde erst jetzt die Idee einer
allgemeinen Verhältnislelire da und dort lebendig.
Was man .seit Zkllek Erkenntnistheorie nennt ♦ lallt zum großen
Teil oder ganz in den Rahmen dieser Voi-^'issenscOiaften. Nur nWVchte ich
glauben, daß man (ganz abgesehen vcm dem F()nnelw(\s(»n ein<»s verknöclH*rt(ni
Kantianismus) die Fragen , die in ein Organon der Wiss<»nschaften gehören.
40 Stumpf:
in den üblichen erkenntnistheoretischen Untersuchungen viel zu eng begrenzt
habe. Schon dadurch , daß fast immer nur von der Erkenntnis der Außenwelt
die Rede ist, als gäbe es nicht noch imifassendere und tiefere Probleme.
Femer dadurch, daß die Phänomenologie in diesem Kreise ganz vernach-
lässigt wurde, während gerade von hier aus durch genaue Erforschung des in
den Erscheinungen immittelbar gegebenen Tatbestandes wichtigste Beiträge
zu gewinnen sind. Denken wir nur an den Begriff der attributiven Verknüpfung
(wie zwischen Farbe und Ausdehnung); an die Raum-, Zeit- und Bewe-
gungserscheinungen, deren rein phänomenalistische Analyse erst klai' die
Bedeutung der begrifflichen Umformungen zeigt, wodurch sie fiir die
Natiu-wissenschaft verwendbar wm'den; an jene qualitative Algebra, die
von dem Banne der räimilichen Vorstellungswelt prinzipiell befreit
(s. S. 28) u. a. Im übrigen ist nichts dagegen zu sagen, daß man die
drei Vorwissenschaften unter dem Namen Erkenntnistheorie zusammen-
fasse. Auch brauchen die drei in der Durchfiihrung nicht so gesondert
gehalten zu werden wie in der Definition, sondern können in verschiedener
Weise in das Ganze einer organisch zusammenhängenden Darstellung ver-
woben werden. Ja es ist sogar unmöglich, die Verhältnisse gründlich ab-
zuhandeln, ohne beständig in die Phänomenologie und Eidologie hinüber-
zugreifen , und umgekehri.. Hier war es uns nur wieder mn möglichst kon-
sequente Klassifikation der Probleme selbst zu tun.
lo neuerer Zeit spricht Meinono von »Gegenstandstheorie« in einem Sinne, der augen-
scheinlich gleichfalls auf eine Art von Vorwissenschafl zielt. ^ AusdrQcklich betont er, daß
die reine Erscheinungslehre nicht zur Psychologie gerechnet werden könne, daß man ferner
»Gegenstände höherer Ordnung* unterscheiden müsse, wozu er die Verhältnisse und die
»Objektive« (Sachverhalte) rechnet, und daß diese Gegenstände besondere Untersuchungen
beanspruchen. Indem ich diese Übereinstimmungen, die ohne Zweifel gleich manchen
sonstigen in dem gemeinschaftlichen Ausgangspunkte der BBEKTANoschen Lehre von den
psychischen Akten wurzeln, hervorhebe, muß ich doch bekennen, daß es mir nicht gelungen
ist, Qber die allgemeine Definition der • Gegenstandstheorie« ins klare zu kommen.
Unter Gegenständen versteht Meinong alles, worauf psychische Akte gerichtet sein
können (§ i). Da aber alles, was Gegenstand irgendeines psychischen Erlebnisses sein
kann, auch Gegenstand einer Erkenntnis sein könne, so lasse sich Gegenstandstheorie auch
^ Untersuchungen zur Gegenstandstheorie und Psychologie (1904). Darin von Meinono
selbst: »Über Gegenstandstheorie«. Die im Folgenden zitierten Paragraphenzahlen beziehen
sich auf diese Abhandlung. Weitere Ausführungen Meinongs zur Gegenstandstheorie: Über
die Erfahrungsgrundlagen unseres Wissens, 1906 (S. I3f.). Über die Stellung der Gegen-
standstheorie im System der Wissenschailen, Ztschr. ftir Philosophie und philos. Kritik
Bd. 129, S. 48f.
ZfüT Einteäung der Wissenschaften. 41
als Theorie der Erkenntnisgegenstaode definieren (§ 6). Ich mochte nun fragen : was soll
hier eigentlich von den Erkenntnisgegenstanden festgestellt und Qber sie ausgesagt werden?
Wenn man absieht von einer Untersuchung der einzelnen Klassen von Erkenntnisgegen-
standen, welche doch Aufgabe anderer Wissenschaften ist, der Mineralogie, Psychologie,
Sprachforschung usf., wenn man also nur das untersucht, was sich fiber Gegenstände als
solche überhaupt sagen ließe, so scheint mir nichts als die Bestimmung des Gegenstands-
begriffes selbst und die Klassifikation der Gegenstande übrigzubleiben. Phänomenologie,
allgemeine Verfaältnislehre gehören auch schon nicht mehr zu einer Theorie der Gegenstande
uberiiaupt, sondern behandeln besondere Klassen von Gegenständen (das Wort in dem
weiten Sinne genommen, wie es Mri.nong tatsächlich versteht), so gut wie Mineralogie oder
Psychologie. Jene Wissenschaft aber, die den GegenstandsbegrifT selbst und seine Arten zu
ihi-em Gegenstande macht, wurde ich nur als ein Kapitel der Eidologie ansehen, da die
Entstehung von «Gegenständen* aufs engste mit der von begrifflichen Gebilden zusammen-
hängt (II.). In praxi wird uian davon in der Logik handeln.
Wenn man Phänomenologie, Verhältnislehre, Objektivenlehre zu einer Gruppe unter
einem Namen zusammenfaßt, so kann dies nur geschehen mit Rücksicht auf jene ihre
eigentOmliche Stellung zu den übrigen Wissenschaften, derzufolge wir sie als Vorwissen-
schaften bezeichneten. Auch Meinong schreibt ihnen offenbar eine ähnliche Bedeutung zu.
Aber die Subsumtion utiter seine »Gegenstands Wissenschaft« kann ich nur für eine unglück-
liche ansehen, da ich eben das gemeinsame Merkmal, das die Subsumtion rechtfertigen
würde, in der Definition dieser Wissenschaft nicht zu entdecken vermag.
MciNONG legt besonderes Gewicht darauf, daß die ganze Mathematik nur als »ein Stuck
Gegenstandstheorie* verstanden werden könne, und daß nur mit Aufstellung dieses Begriffes
die alte Schwierigkeit, die Mathematik im System der Wissenschaften untei*zubringen , lösbar
erscheine (§ 2 , § 9). Dadurch würde nun freilich der neuen Wissenschaft ein imgeheures
Königreich eingegliedert, und niemand könnte mehr an der Existenz und Berechtigung einer
Gegenstandstlieorie zweifeln. Aber M. betrachtet sie dann doch nur als eine »spezielle
Gegenstandstheorie*, von der er die intendieiie allgemeine Gegenstandstheorie noch
unteracheidet (§ 10). Über diese selbst erfahren wir damit noch nichts. Meinonos Schüler
Mallt stellt nun aber in dem gleichen Sammelwerk die Mathematik zur Gegenstandstheorie
vielmehr in Gegensatz: diese untersuche Gegenstände gegebener Vorstellungen und Be-
griffe, die Mathematik aber bilde und untersuche die in ihren Definitionen angenommenen
(fingierten) Gegenstände. Die Gegenstandstheorie würde hiemach mit sämtlichen andei*en
Wissenschaften der Mathematik gegenüberstehen und diese nicht einschließen, sondern aus-
schließen. Die Auffassung weicht prinzipiell von der MEiNONOschen ab, wovon al)er beide
Autoren keine Notiz nehmen. Jedenfalls fuhren so vei*schiedene Versuche, die Mathematik
in ein Verhältnis zur Gegen Standstheorie zu bringen, nicht zu besserer Erkenntnis dieser
letzten, sondern eher zu dem Schlüsse, daß ihr Begriff noch nicht mit genügender Klarheit
formuliert sei.
Gegen den Schluß von Meinonos Ausführungen wird, um Gegenstandstheorie tmd
Metaphysik abzugrenzen, noch eine beachtenswerte Definition gegeben. »Was aus der
Natur eines Gegenstandes, also a priori, in betreff dieses Gegenstandes erkannt werden
kann, das gehört in die Gegenstandstheorie.* In Meinongs späteren Ausführungen tritt dieses
Merkmal geradezu als das entscheidende auf. Danach muß allerdings die ganze Mathematik
dazu gereclmet werden: aber eine Abgrenzung der allgemeinen gegen die spezielle Gegen-
standstlieorie ist damit doch auch nicht gegeben. Von der Phänomenologie, die doch in
FMloi.'hiitor.Aöh. 1906. V. 6
42 Stumpf:
Hinsicht ilires Gegenstandes einen festgeschlossenen und wohlabgegrcnzten Kreis von Unter-
suchungen bildet, wurde der Gegenstandstheorie nur das Apriorische zufallen. Wieviel nun
von phänomenologischen Ergebnissen a priori bewiesen werden kann, mag hier unerörtert
bleibeu: — alles doch jedenfalls nicht. Somit mußte sie gespalteu werden. Der apriorische
Teil wurde dann aber wieder nicht etwa der allgemeinen , sondern offenbar einer speziellen
Gegenstandstheorie angehören. Also auch von der Phänomenologie bliebe für die aligemeine
G^enstandstheorie nichts übrig. Und von jenen »heimatlosen Gegenständen«, die Meinong
in der letzten Abhandlung (Über die Stellung usw.) für sie reklamiert, blieben nur die
■unmöglichen Gegenstände«, denen man doch schwerlich eine selbständige Wissenschaft
widmen wird.
Nun ist es gewiß denkbar, daß das Gemeinschaftliche aller speziellen apriorischen Er-
kenntnisse, d. h. die allgemeinsten apriorischen Sätze aller Wissenschaften schlechtweg, zu
einem Ganzen vereinigt würde, wie dies in ihrer Weise die schottische Schule und Kanis
Vernunfbkritik versucht haben. Die Aufgabe ist aber von der Logik imd Erkenntnistheorie
doch niemals außer Auge gelassen worden; während gerade von den »Untersuchungen zur
Gegenstandstheorie« sich bisher keine einzige damit beschäftigt.
4. Metaphysik.
Die VerfolgiÄig der dm'ch den Gegensatz der Erscheinungen und der
psychischen Funktionen gegebenen Richtungslinien fuhrt zu einer letzten
Wissenschaft, die gegenüber den Vorwissenschaften und dem Zentralstock
als Nach Wissenschaft gelten kann : zur Metaphysik. In diesem Sinne würden
wir fi-eilich ebensogut Metapsychik sagen können, da Psychologie eben-
so und noch mehr ihre Voraussetzung ist wie Physik.
Es seien die Erscheinungen in sich selbst, es seien die psychischen
Funktionen, es seien die Gebilde, auch die Verhältnisse in imd zwischen
diesen Gegenständen, endlich die jenseits der Erscheinungen liegenden phy-
sischen Gegenstände besonderen Wissenschaften oder Wissenschaftsgruppen
zugeteilt: so entsteht schließlich die Frage nach gemeinschaftlichen
Gesetzen und nach dem einheitlichen Zusammenhang aller dieser
vorher unterschiedenen Gegenstände. Welchen Begriffen und Ge-
setzen läßt sich besonders das Verhältnis des Physischen zum Psychischen
imterordnen? Welches ist femer der Begriff und das Kiiterium der Re-
alität (denn dieser Begriff ist vor allem das Zentrum , das alle Gegenstände
zusammenbindet, wenn er auch nicht der Gattungsbegriff fiir alle ist), und
was ist nach dem aufzustellenden Kriterium als real anzuerkennen, Phy-
sisches oder Psychisches oder beides oder ein unbekanntes Drittes statt
beider? Was heißt Kausalität im physischen, im psychischen Gebiete?
In welcher Beziehung steht das Psychische zum Gesetze der Energie imd
Zur Einteilung der Wissensc/uiften. 43
anderen im physischen Grebiet als allgemein gültig angesehenen Formeln?
(Übt e^ ein allgemeines (Jesetz der Stetigkeit (Leibniz)? Läßt sich ein
allgemeinster Begriff und lassen sich allgemeine Gesetze der zeitlichen
Entwickelmig aufstellen, und in welchem Verhältnis stehen wieder die
Eutwickelungen der psychischen und der physischen Welt, für welche Ge-
biete mis beiderseits ein so reiches, aber noch keineswegs einheitlich ver-
knüpftes Material vorliegt? Gibt es eine immanente Zweckmäßigkeit oder
Zielstrebigkeit der Dinge? Wie ist das teleologische Problem in seiner
allgemeinsten Form zu fassen imd zu lösen? Was hat die Objektivität und
Identität der »Gebilde«, ihre Unabhängigkeit von den individuellen Akten,
zu bedeuten? Wie müssen die durch den zweiten Hauptsatz der mecha-
nischen Wärmelehre entstandenen Paradoxien in bezug auf Anfang und
Knde des Weltprozesses behandelt werden? Wie sind die dadiux^Ii er-
neuerten alten Antinomien betreffs Endlichkeit und Unendlichkeit von
Raum, Zeit, Masse heute am einwandfreiesten aufzulösen? (Denn daß Kants
lAsung nur eine Zumckschiebung war, ist leicht zu sehen.) Läßt die
iiichteuklidische Geometrie, speziell der RiEMANNsche Raum, läßt femer die
l-ANTORSche Mengenlehre stichhaltige Anwendmigen auf diese Probleme
zu? Welche allgemeine Weltanschauung ergibt sich aus alledem als ge-
tnmester Ausdruck des gegenwärtigen Standes menschlicher Wissenschaft?
Man sieht, von allen Seiten drängen die Fragen heran, und keine
Disziplin der reinen Vernunft kann dem menschlichen Geiste wehren, ihrer
Klärung nachzugehen. Nicht blos eine Wissenstheorie, sondern in der
Tat eine Welttheoiie ist es , die trotz alles Widerspruches der &kenntnis-
kritiker unabweislich gefordert werden muß. Sie ist nicht ein aus ]\Iiß-
verständnis des Erkenntnisbegriffes und der Erkenntnisbedingungen her-
vorgegangenes Phantom , sondern prinzipiell genau so möglich und berechtigt
wie jede sonstige Erkenntnis. Freilich nicht irgendeiner alten Metaphysik
reden wir das Wort, sondern einer neuen, und nicht einem a priori kon-
struierten, mit einem Wurf vollendeten Bau, sondern einer Erfahrungs-
metaphysik , wie sie jede Zeit als relativen Abschluß ihres Wissens braucht.
Weil sie an die Fort,sehritte der Einzelwissenschaften gebunden ist, setzt
sie unter allen Wissenschaften geradezu die breiteste Erfahnuigsbasis
voraus, ist Erfahrungswissenschaft im prägnantesten Sinne des Wortes.
Jeder neue Aufschwimg, jede griindliche Umwälzung größerer Wissen-
schaftsgebiete bedeutet auch für sie neue Fonlerung, wenn auch nur die
44 Stumpf:
allergrößten Revolutionen direkt neue metaphysisclie Gestaltungen nach
sich ziehen: wie das Aufkommen des Kopernikanischen Systems, wie die
Blüte der Physik seit Galilei, wie die entwickeliuigsgescliichtliche Auf-
fassung der Organismen. Wegen dieses Abhängigkeitsverhältnisses, das
ihrer königlichen Würde keinen Abbinich tut, haben wir Metaphysik als
eine Nach Wissenschaft bezeichnet; wie es denn auch bei ^ndronikus von
Rhodus wohl nicht ganz zufallig war, daß er die aristotelischen Schriften
über die »erste Philosophie« hinter die physischen (mctA tA ♦ycikA) stellte.
Daß die Nach Wissenschaft gleichwohl die älteste, die Vorwissenschaften
aber die neuesten sind, dai-f niemand A\amdern, der den Gang des mensch-
lichen Erkennens verfolgt. Das Höchste reizt zuerst den Wissenstiieb.
Vor den sich auftüiinenden Schwierigkeiten scheut er zeitweilig zurück,
aber die alten Fragen lassen ihm keine Ruhe.
V. Reduktion durch Einfährang des Realitätsbegriffes.
Die im vorigen entwickelte Gliederung nach Gegenständen nimmt
den Gegenstandsbegriff in dem weitesten Sinne, wie er im II. Abschnitt
erläutert ist. Vom Merkmal der Realität wird dabei abgesehen. Sie wird
aus ebendiesem Grunde nicht jedem zusagen. Soll wirklich, wird man
fi'agen, die alte Scheidung des Physischen und des Psychischen, statt
überwunden zu werden, noch durch neue Glieder vermehrt werden,
während doch Erscheinmigen nicht vorkommen ohne erscheinendes Objekt
und ohne Subjekt, dem sie erscheinen, Gebilde aber nur als Inhalte psy-
chischer Funktionen denkbar sind? Und soll gar noch eine Welt der
Verhältnisse danebengestellt werden, während doch Verhältnisse nie ge-
trennt von den Dingen und Eigenschaften vorkommen, die in Verhältnissen
zueinander stehen?
Hier gilt es , den allgemeinsten Begriff des Gegenstandes und den des
realen Gegenstandes genau auseinanderzuhalten. Sobald man den letzten
zum Einteilungsgrund nimmt, verändert sich die Konfiguration. Dann
wird man Natur- und Geisteswissenschaften von vornherein bestimmen als
Wissenschaften vom physisch Realen und vom psychisch Realen; oder,
wie der parallelistische Monist sagt, vom Realen nach seiner physischen
und von demselben Realen nach seiner psychischen Seite. Dann gibt es
nur Eine Wissenschaft außer diesen beiden GiTippen : die von den gemein-
Zur Einteilung der Wissenschaften. 45
schaftliclien Begriffen und Gesetzen för alles Reale schlechthin, bzw. für
beide Seiten des Realen; welches nuiunehi* die Definition der Metaphysik
ist. Von den Vorwissenschaflen gehören dann Phänomenologie und Eido-
logie zur Psychologie, weil Erscheinungen und Gebilde zur psychischen
Realität gehören ; die allgemeine Verhältnislelu-e aber bildet einen Teil der
MetJiphysik, weil es sich um Verhaltnisse handelt, die gleichmäßig in
beiden Gebieten oder die zwischen ihnen obwalten.
In diesem Falle resultiert nur eine Dreiteilung. Aber es liegen hier
oben eine Reihe von Voraussetzungen zugrunde , die bei der vorigen Glie-
derung umgangen werden: nämlich die der Realität des Physischen, die der
Realität des Psychischen (mag es dasselbe Reale sein oder ein verschie-
denes), die der Unrealität der Erscheinungen und der Gebilde in sich selbst,
endlich die der Unrealität oder unselbständigen Realität der Verhältnisse
(in welcher Beziehung man schlechthin nichtreale Verhältnisse, die nur
durch Denken entstehen, und solche, die in den Dingen selbst wurzeln,
zu sclieiden pflegt). Wenn man nun die hierauf bezüglichen Fragen und
vor allem die nach dem Realitätsbegrilfe selbst als einstimmig und defini-
tiv beantwortet ansehen könnte, so ließe sich in der Tat unter Voraus-
schickung der nötigen Erläuterungen die Einteilung und Definition der
Wissenschaften in dieser Weise vornehmen und würde als einfachere den
Vorzug verdienen. Sachlich wird so natürlich an den Gegenständen und
Aufgaben der euizelnen Untersuchungen nichts geändert; z. B. die Erschei-
nungslelire bleibt, was sie ist, mag sie als besondere Wissenschaft oder
als Teil der Psychologie betrachtet werden, und so auch die übrigen.
Sieht man die gegenwärtigen Lehrbücher der Physik, Physiologie,
Psychologie daraufhin an, so wird man bemerken, daß sie tatsächlich oft
ein gutes Stück Metaphysik an d(Mi Eingang stellen. Der Physiker pflegt
es kürzer, wie eine leidige Notwendigkeit, abzumachen. Viel mehr findet
man schon bei Physiologen (wie Verworx, Bi-ngk). Besonders aber ergehen
sich Psychologen in ausfiihrliehen Einleitungen über diese Fragen, über
Objekt mid Subjekt, Wesen der Seele, Verhältnis zum Leib, Parallelismus.
Panpsychismus usf. Und zwar verfahren so nicht bloß Psychologen älterer.
mehr abstrakter Richtung, sondern auch Experimentalpsyehologen , wie
Ebbinchaus und ]\röNSTERBER(f. Bekanntlich hatte F. A. Lange eine »Psv-
•
chologie ohne Seele« verlangt und Lotze darob getadelt, daß er sogar
seiner »Medizinischen Psycliologie« 170 Seiten Metaphysik vorausschickte.
46 Stumpf:
Der mehi- geistreiche als gründliche Geschichtschreiber des Materialismus
hat mit seiner scharfen Zensur, wie man sieht, das Wiederaufleben der
angeblichen Unart nicht verhindert. Ja die heutige Psychologie ist fast
wie die HERBARTSche »neugegründet auf Erfahrung, Metaphysik und Mathe-
matik«, jedenfalls noch immer mehr auf Metaphysik als auf Mathematik.
Ob nun. diese metaphysischen Einleitungen in Lehrbüchern dui-chaus
notwendig sind, bleibe hier dahingestellt; es wird auf die näheren Zwecke
einer Schrift ankommen. Ich fahre sie hier nur als Beweis an, daß eine
gegenständliche Abgi*enzung der Natur- und Geisteswissenschaften, wenn
eine größere Zahl von Einteilungsgliedem vermieden werden soll, not-
wendig metaphysische Erörteiningen voraussetzt, die sich mn den Realitäts-
begriflf gruppieren. Will man solche Erörtei-ungen nicht, so muß man eben
Psychologie als Lehre von den psychischen Funktionen erklären, und dann
fallen Phänomenologie usw. nicht in die Psychologie und man kommt
zur mehrgliedrigen Einteilung des vorigen Abschnittes. Sie ist voraus-
setzungsloser.
Daß gemeinhin bloß Natur- und Geisteswissenschaften und über ihnen
noch allenfalls Metaphysik unterschieden werden, beweist hiemach nur
wieder, daß eben auch das allgemeine Denken genug metai^hysische Vor-
aussetzungen mit sich fiihrt, um die Erscheinungen ohne weiteres der
Seele oder den Körpern und damit die Phänomenologie der Psychologie
oder der Natiu'wissenschaft einzuftigen.
Ich möchte hier eine noch weiter greifende Vereinfachung kurz be-
rühren, die scheinbar gerade auf einer völligen Elimination des Realitäts-
grifles ruht. Naturforscher, die Kant oder Schopenhauer, neuerdings auch
wohl Mach , zum Führer gewählt haben , überraschen uns diu'ch eine merk-
würdige Wendung. Sie schließen: da die Naturwissenschaft von den Er-
scheinungen handle, Erscheiimngen aber etwas Psychisches seien, so sei
überhaupt aUe Wissenschaft Psychologie.^
^ So namentlich Verworn in seiner «Allgemeinen Physiologie« sowie in dem Vortrag
»Naturwissenschaft und Weltanschauung« 1904.
Nach Mach besteht übrigens das Psychische gleicherweise wie das Physische aus an
sich indifferenten »Elementen«; man kann daher nicht sagen, daß ihm alles psychisch sei.
Hierin hat ihn auch Kleinpeter, Die Erkenntnistheorie der Naturforschung der Gegenwart
(1905) S. 18 f. mißverstanden, obgleich er nicht wie Verworn die Folgerung zieht, daß alle
Wissenschaft Psychologie sei. Da Mach den AusHihrungen der beiden ihm folgenden Autoren
uneingeschränkten Beifall spendet, scheint er diese ihre wesentliche Abweichung nicht be-
Zur Einteilung der Wissenschaften. 47
So hätten wir einen universalen Psychologismus, gegen welchen der
von den Erkenntniskritiken! so stark perhorreszierte Psychologismus, der
sich nur die Eidologie angeeignet hatte, eine Kleinigkeit wäre. Er hätte
nicht bloß die gesamte Philosophie, sondeni auch alle übrigen Wissen-
schaften in sich verschlungen. Nachdem man schon vom »kaudinischen
Joche der Psychologie« gesprochen hat, darf wohl besonders konstatiert
werden, daß dieser Gedanke nicht von Psychologen ausgegangen ist.
Aber die erste Prämisse des Schlusses, die zu so paradoxer Folgerung
fuhrt , ist falsch , die zweite nur bedingt richtig. Weder handelt die Natur-
wissenschaft von Erscheinungen, noch sind Erscheinungen etwas Psychi-
sches im Sinne der psychischen Funktionen, die den primären Gegenstand
der Psychologie bilden. Die Naturforschung hat ihr selbständiges, von
dem der Psychologie hinsichtlich der Objektbestimmung durchaus unab-
hängiges, Untersuchungsgebiet.
VL Individuelles und Allgemeines. Tatsachen- and Oesetzeswissen-
schalten.
I. Den Unterschied zwischen individuellen und aljgemeinen Gegen-
ständen dürfen wir hier als gegeben hinnehmen. Worin auch immer das
Kriterium der Individualität (Prinzip der Individuation) in den verschiedenen
(Gebieten gesucht und in welchem Sinne überhaupt von einem solchen Kri-
terium gesprochen werden mag: wenige werden leugnen, daß die Wahr-
nehmung, auch die bloße Vorstelhmg und das Ux*t-eil, im physischen wie
im psychischen Gebiet Individuelles zum Gegenstande haben kann. Zu den
individuellen Gegenständen rechnen wir hier aber auch Gi-uppen von in-
dividuellen (iegenständen (Kollektiva), innerhalb deren Individuen in en-
gerem Sinn unterschieden werden können. Die Bestimmung der letzten
Individuen unterliegt, im physischen Gebiete wenigstens , bekannten Schwie-
rigkeiten. Für die Anhänger der Atomenlehre würde, wenn sie den Begriff
merkt zu haben. Aus Macrs Grundanschauungen ergibt sich allerdings auch, daß zwischen
Mineralogie und Psycltologie ein materieller Unterschied der Gegenstinde nicht besteht,
da sowohl Naturgegenstände wie Seelent&tigkeiten für ihn nur Komplexe von Erscheinungen
sind, und zwar von den nämlichen Erschein ungen , Farben, Gestalten, Gerfichen usf. Aber
nicht ei^ibt sich fHr ihn, daB alles psychisch ist, und noch weniger, daß alle Wissenschaft
auf Psychologie hioauslftuA.
48 Stumpf:
des Atoms in absolutem Sinne fassen, damit zugleich das Individuum im
engsten Sinne gegeben sein, wie es ja auch das Wort selbst andeutet. Alle
übrigen sogenannten physischen Dinge wären Kollektiva. Wer aber stetigen
Zusammenhang der Materie annimmt, muß den Begriff in den einzelnen
Gebieten dui-ch Definitionen festlegen , und es mag dann auch wohl das näm-
liche, was in bezug auf höhere Kollektiva Individuum genannt wird, mit
seinen eigenen Teilen vergliclien , Kollektivum heißen. Diese Fragen köimen
aber hier ganz auf sich beruhen. Denn ol) man das Matterhom als In-
dividuum oder als Kollektivum betrachte, jedenfalls ist es etwa« Indivi-
duelles und nicht ein bloßer Begriff.
Daß man von allgemeinen Gegenständen reden dürfe, wird nicht von
jedem zugestanden, ist aber nicht minder einleuchtend, wenn der Ausdinick
Gegenstand in dem weiten Sinne genommen wird, wie wir es hier ver-
langen, und wenn man die Unmöglichkeit des Nominalismus in allen seinen
Formen eingesehen hat.^
Nim kann man zwar von einem individuellen Gegenstand ein Gesetz
behaupten. Denn wenn ich auch nur sage: »Dieser Apfel kann nicht zu-
gleich reif und unreif sein« oder: »Dieser Apfel muß fallen, wenn sein
Stiel durchschnitten wird«, so spreche ich damit eine Notwendigkeit, also
ein Gesetz aus, ganz ebenso, wie wemi ich den Satz des Widerspruches
oder das Fallgcsetz in allgemeiner Form ausspreche. Und umgekehrt kann
man in bezug auf etwas Allgemehies eine bloße Tatsache aussprechen , z. B.
»Ks gibt unter den Sinnesinlialten Äluilichkeiten , die nicht auf partielle
Gleichheiten zuiiickfiihrbar sind.« Dennoch ist es gewiß, daß Wissen-
schaften von individuellen Gegenständen wesentlich auf die Fonnulierung
bloßer Tatsachen, Wissenschaften von allgemeinen Gegenständen aber auf
die Formulierung von Gesetzen abzielen, wenn auch Sachverhalte der ent-
gegengesetzten Art in beiden Fällen als notwendige Durchgangspunkte auf
dem Wege liegen. Und so föhrt der Unterschied von individuellen und
allgemeinen Gegenständen auf den Unterschied der Tatsachen- und der Ge-
setzeswissenschaften.
Den Unterschied von Tatsachen und Gesetzen selbst halte ich för einen
durchaus scharfen, ebenso wie den von Individuellem und Allgemeinem.
^ Ich verweise hier auf den vorzüglichen Abschnitt »Über die ideale Einheit der Spezies
und die neueren Abstraktionstheorien« in Husserls Logischen Untersuchungen 11, io6 f.
Zur Einteilung der Wissenschaften. 49
Tatsache im weiteren Sinne heißt nach dem Sprachgebrauch jede Walirheit.
Aber Tatsache im engeren Sinne, bloße Tatsache, ist eine Walirheit, die
nicht Gesetz oder (was dasselbe sagt) nicht notwendig ist. Der primäre Be-
JO^ff also , von dem aus der Unterschied zu definieren ist , ist der des Gesetzes.
Und hier wieder ist das Primäre, wovon man ausgehen muß, das
Logisch -Gesetzliche. Wer im Zweifel ist, ob der Ausdruck Notwendigkeit
eine Bedeutung hat, die sich von der eines bloß als tatsächlich aner-
kamiten Sachverhaltes unterscheidet, braucht sich nur die logischen Axiome
zu vergegenwärtigen. Sollten ihm aber, wie einigen Neueren, diese Satze
als bloße Definitionen, nicht als Erkenntnisse von Sachverhalten erscheinen,
so verweisen wir auf die Erkenntnis des Zusammenhanges von Prämissen
mit den zugehörigen Schlußsätzen in gültigen Schlüssen beliebiger Art.
Man brauclit nur die Pi-ämissen und den Schlußsatz eines gültigen Schlusses,
statt sie als selbständige Urteile gesondert auszusprechen, durch die Formel
»Wenn . . ., und wenn . . ., so . . .« mit dem Sclüußsatz zu verbinden,
so hat man ein zusaumiengesetztes Urteil, das niemand als Tautologie oder
l)loße Definition ansehen kann , und das dennoch unmittelbare Evidenz be-
sitzt. Z. B. »Wenn alle A B und alle B C sind, so sind auch alle A ('«.
Diese » Folgeiningsaxiome « liegen nicht etwa selbst wieder als Prämissen
uiis(»ren Schlüssen zugrunde (sonst hätten wh* ja eben drei Prämissen statt
zweier, und da ihr Zusammenhang mit dem Schlußsatz wieder einen evi-
denten Satz dai-stellt, so würden sich ins Unendliche solche versteckte Prä-
missen herausziehen lassen , so daß jeder Einzelfall eines gültigen Schlusses
tatsächlich unendlich viele Prämissen hätte). Vielmehr können die Folge-
nmgsaxiome nur aus gegebenen Schlüssen nachträglich abstrahiert werden,
wenn man seine Aufinerksamkeit auf den Zusammenhang der Vordersätze
mit den Nachsätzen richtet und diesen Zusammenhang zum (iegenstand
eines besonderen Urteils macht. Tut man dies aber, dann erweisen sie sich
als Sätze, die den Charakter der logischen Notwendigkeit an sich tragen.*
' Den Begriff der Folgeningsaxiome habe ich in dieser Weise seit 1883 in Vorlesungen
über Logik entwickelt. Den Gedanken, daß die Schlußregel nicht selbst als Prämisse gelten
darf, findet man aber bereits bei Bolzano in derselben Weise begründet. ( Wissen schafts-
lehrell, 344, §199),
Wenn man überhaupt von synthetischen Grundsätzen apriori sprechen will, so würde
ich die Bezeichnung für diese Folgerungsaxiome in Anspruch nehmen, während die von
Kaht angeführten Sätze teils nicht synthetisch teils nicht apriorisch teils nicht einmal
wahr sind.
Phio$.>hiikn. Ahh. 1906. V. 7
50 Stumpf:
Jeder noch so extreme Empirist gelit nicht bloß von irgend etwas
(legebenem aus, über das er einen Streit fiir ausgeschlossen hält, sondern er
geht auch beständig von Erkenntnissen zu anderen Erkenntnissen über, die
er durch die ersten begründet denkt. Damit erkennt er, ohne es zu wollen
und zu bemerken, den einleuchtenden Zusammenhang von^ Erkenntnissen
an, den wir als logische Notweiuligkeit bezeiclmen. Damit ist das Fun-
dament des strengen Regrifles von Notwendigkeit, von Gesetzlichkeit ge-
geben, ohne welclien jede Theorie menscldiclien Wissens ein vergebliclies
Bemühen bleibt.
Von größter Wichtigkeit ist es, sich klar zu werden, daß diese Not-
wendigkeit nicht ein blinder, von irgendweicher unbekannten Macht aus-
geübter Zwang, sondern eine aus dem augenblicklichen Bewußtseinsinhalt
selbst fließende, in ihm selbst wurzelnde ist; weshalb wir ein solches Ur-
teil nicht als einen blinden (41auben, sondern als eine Einsicht bezeichnen.
Selbstverständlich steht es, als psychischer Akt betrachtet, innerhalb des
allgemeinen Kausalzusammenhanges, ist es die Wirkung vorausgehender realer
Bedingungen , psychischer oder sonstweicher. Aber nicht auf diesen Kausal-
zusammenhang kommt es hier an. Er findet sich bei falschen wie bei
wahren Ui-teilen, bei ungültigen wie bei gültigen Schlußfolgerungen, beim
blindesten (rlauben wie bei der hellsten Einsicht. Die Eigenschaft, um
derentwillen wir von notwendigen Urteilen im logischen Sinne des Wortes
sprechen, ist nicht diese j)sychol(>gische , reale Notwendigkeit. Sie ist eine
immanente Eigenschaft des Urteils in Hinsicht seines Inhaltes, also
des Sachverhaltes. Diesem kommt sie zu, nicht dem Urteilsakt. Darum
und insofern sind wir auch berechtigt, sie als eine objektive, nämlich vom
augenblicklichen individuellen Akt des Urteilens unabhängige, zu bezeichnen.
Von diesem Urbegriffe des Notwendigen ausgehend, können wir erst den
Begriff des Naturgesetzes oder desPhysisch-Notwendigen bilden, nicht
aber läßt sich umgekehrt die logische Notwendigkeit aus irgendeinem realen
gesetzlichen Zusammenhang ableiten. Wir können unter Naturgesetz nur eine
Notwendigkeit verstehen, die in analoger Weise wie die logisch -evidenten
Zusammenhänge aus der Sache selbst uns einleuchten würde, wenn uns
eine apriorisch -deduktive Naturerkenntnis möglich wäre.* Tatsächlich er-
^ Vgl. Psychologie und Erkenntnistheorie, 8. 494 f. Ich muß hier und im folgenden
einiges aus dieser Abhandlung rekapitulieren.
Zur Einteilung der Wissenschaften. 51
seliließeii wir diese physischen Notwendigkeiten auf einem Umweg: als
Hj-pothesen , olme welche die beobachteten Regelmäßigkeiten der Erschei-
nungen mehr oder minder unwahrscheinlich wären. Niemand macht sich
<*iner logischen Absurdität schuldig, der irgendein Naturgesetz, selbst das
bestbewährte, in Abrede stellt und die sämtlichen darauf hindeutenden
Übereinstinmiungen der Beobachtimgen dem Zufall in die Schuhe sclüebt.
Kr riskiert nur unter Umständen gewaltige Unwahrscheinlichkeiten. Trotz-
dem ist von dem strengen Begriff der Notwendigkeit auch ftir das phy-
sische (iebiet nicht ein Jota abzudingen. Notwendigkeit und Sicherheit
ist eben zweierlei. An den logischen Notwendigkeiten haben wir zugleich
sichere, an den physischen aber wahrscheinliche Notwendigkeiten.'
Bloße Tatsache nennen wir nun alles, was weder logisches noch
physisches (iesetz ist, wie z.B., daß der Mond einen Durchmesser von
468 geographischen Meilen hat, oder daß hier ein Felsblock am Wege
liegt. Kh wäre kurzsichtig, mit dem Hinweis auf die allgemeine Not-
wendigkeit des Naturlaufes, durch die schließlich alles Tatsächliche be-
<Ungt sei, den Unterschied beseitigen zu wollen. Denn niemals ist eine
Tatsaelie bloße Folge von Naturgesetzen, jedesmal gehört noch eine vor-
ausgehende Tatsache dazu. In jedem Moment ist die Stellung der Ewle
im Weltraum die Folge des Gravitationsgesetzes, aber nicht des (xesetzes
allein, sondern in Verbindung mit der vorhergehenden Konstellation des
Planetensystems. Wieweit man auch zurückgehen will, niemals wird man
natürlich auf bloße (iosetze stoßen, niemals wird es möglich sein, aus
einer Verknüpfung bloßer Allgemeinheiten auch nur die geruigfiigigste kon-
krete Tatsache abzuleiten." (iesetze haben immer die Fonn: Wenn — so:
Tatsachen sind aber Lihalte assei-torischer Urteile. Folglich gibt es in
diesem Sinne des Wortes »Kontingentes«, und alles individuelle Dasein
empirischer (Gegenstände zu irgendeiner Zeit ist von dieser Art. Darin sind
Lkibniz und Desiartes vollkommen im Rechte. Man kann dabei immerhin
dif Idee im Auge behalten, daß dieses Kontingente auf irgendeiner, viel-
leicht nur aufweiten Umwegen definierbaren, Notwendigkeit beruhen möge
^ über das leitende Prinzip, welches also zugleich das Prinzip der Induktion ist,
»ielie die Untersuchung «T^ber den Begriff der roathemaUschen Wahrscheinlichkeit*, Sitzungs-
berichte der MQnchener Akademie, Philosophisch -philologische Klasse 1892, S. 95 f.
* Psychologie und Erkenntnistheorie 8. 496. Denselben Gedanken ftlhrt Wirdilband
•Geschichte und Natur wissenscitaft- (1904), S. 24 f., aus.
52 Stumpf:
(die also noch umständlicher als das Physisch -Notwendige aus dem einzigen
Urbegriff des Logisch -Notwendigen hergeleitet werden müßte). Für den
gegenwärtigen Zweck ist nur die Feststellung erforderlich, daß dieses bloß
Tatsächliche jedenfalls vom Notwendigen in der bisher erläuterten Be-
deutung, vom Logisch- wie vom Physisch -Notwendigen, unterschieden
werden muß, und daß es eben um dieses Unterschiedes willen, in diesem
negativen Sinne, hier als bloß Tatsächliches bezeichnet wird.
Ebenso umnöglich wie die Reduktion der Tatsachen auf Gesetze im
erwähnten Smn ist aber auch die der Gesetze auf Tatsachen. Die posi-
tivistische Auflösung der (iesetze in bloße Tatsachen involviert viel gröbere
Illusionen als alle, die man der alten Metaphysik vorwirft. Trotz der tiefen
Einsichten in die Entwicklungsgeschichte des naturwissenschaftlichen Den-
kens, die Ernst Machs Ausfiihrungen über die ökonomische Natur der
physikalischen Forschungen enthalten, ist seine Behauptung, daß ein Na-
turgesetz nicht mehr sei als ein umfassender und veixlichteter Bericht über
Tatsachen,* logisch ganz undurchfiihrbar. So wenig ein Begi'iff eine Zu-
sammenfassung von Individuen, so wenig ist ein Gesetz eine Zusammen-
fassung von Tatsachen. Nicht eine einzige Tatsache ist im Gesetz ent-
halten, geschweige eine Vielheit, da es eben stets nur ein hypothetisches,
niemals ein thetisches Urteil ist. Andererseits können noch so viele Tat-
sachen auch das speziellste Gesetz nicht erschöpfen. Wenn Mach die
Formeln der Physik als bloße Abkürzungen an Stelle von ausfiihrlicheren
Tabellen bezeichnet,^ so scheint er zu übersehen, daß solche Tabellen,
die z. B. zu jedem Fallraum die zugehörige Fallzeit notieren würden, selbst
schon Tabellen von Gesetzen, nicht von individuellen Ereignissen wären.
Denn jede solche Zusammengehörigkeit wäre schon eine Regel, die sich
in beliebig vielen Einzelfällen bewähren würde, so oft ein gleicher Fall-
raum vorläge. Überdies würde eine solche Tabelle, da sie nur diskret
fortschreitende Werte enthielte, nicht einmal die unendliche Zahl der im
^ Populär -wissenschaftliche Vorlesungen 1896, S. 2 15 f. (Der Akademievortrag »Über
die ökonomische Natur der physikalischen Forschung* datiert von 1882.) Ähnlich in allen
seinen späteren Schriften.
' Als Erleichterungen für das Gedächtnis hat fibrigens bereits Helmholtz (in seiner
Rede Qber das Verhältnis der Natui*wis8enschaflen zur Gesamtheit der Wissenschaft 1862)
die AllgemeinbegrifTe imd Gesetze hingestellt und sich sogar des nämlichen Beispiels (Brechungs-
gesetz) bedient. Aber das Wesen des Gesetzes geht ihm doch nicht in dieser Funktion auf.
Zur Einteilung der Wissefisdiaften, 53
Fallgesetz enthaltenen allgemeinen Möglichkeiten erschöpfen. Folglich ist
das Gesetz nicht eine abgekürzte Tabelle. Daß »die imposantesten Sätze
<ler Physik, in ihre Elemente aufgelöst, sich in nichts von den beschrei-
benden Sätzen des Naturhistorikers unterscheiden«, ist nur insofern richtig,
als auch die sogenamiten beschreibenden Sätze des Naturhistorikers Ge-
setze aussagen und nicht bloß Tatsächliches.' Man wird den Wert öko-
nomischer Prinzipien fiir die Wissenschaft, wie sie schon den alten nomi-
ualistischen Regeln: »Kntia non sunt multiplicanda praeter necessitatem « ,
• Frustra fit per plura, quod fieri potest per pauciora« und besonders dem
Positivismus Comtes zugrunde liegen, nicht bestreiten. Aber schließlich
gibt es auch eine Sparsamkeit, die zum Bankerott föhrt, und eine solche
ist's, die den Begriff des Gesetzes in seinem strengen Sinn aus der Wissen-
schaft eliminieren will. Der Unterschied von Gesetzen und bloßen Tat-
sachen ist för unsere Erkenntnis schlechterdings unaufhebbar.^
2. Nun könnte man weiter fragen, ob in jeder wissenschaftlichen
Untersuchung mid Darstellung sowohl Tatsachen als Gesetze untersuclit
und behauptet werden, oder ob hier eine wenigstens relative Trennung
möglich sei. Nehmen wii' einmal an, eine solclie Trenimng sei möglich
(und sie ist es mindestens im gewissen Umfange), so ist das Entscheidende
iur die Konstituiei-ung besonderer Wissenschaftsgruppen unter diesem Ge-
steh tspimkt doch immer nur die Frage, ob das Interesse der Forschung
vernünftigerweise einmal bloßen Tatsachen imd ein andei-es Mal bloßen
Gesetzen zugewandt sein kann , und ob demgemäß mit Rücksicht auf diese
leitenden Ziele gi-oße Wissenschaftsgruppen unterschieden werden können.
Hätte das menschliche Gemüt, als Wurzel auch alles intellektuellen Stre-
* Siehe unter Nr. 3 dieses Abschnittes (Strukturgesetze).
BoLTZM ANN hftt bereits auf das wunderliche Zusammentreten hingewiesen , daß gerade,
während die beschreibenden Naturwissenschaften sich als Gesetzes wissenschafVeo prokla-
mierten, die Mechanik, der Typus einer Gesetzes Wissenschaft, als bloß beschreibende
Disziplin erkÜrt wurde. Kirchhof ps berühmtes Diktum in dieser Hinsicht wird sicherlich
ab Stimulans seinen Nutzen und seine relative Berechtigung gehabt haben; aber als richtig
kann es nicht anerkannt werden , solange man an dem Begriff der Beschreibung als der An-
gabe individueller Tatsachen festhält. Anders liegt die Sache, wenn Beschreibung als Dar-
legung von Strukturgesetzen verstanden wird; in welchem Falle ja auch die Mathematik
f*ine beschreibende Wissenschaft ist. Dann fragt es sich nur noch, ob Mechanik ganz in
Mathematik verwandelt werden kann; was uns an dieser Stelle nicht angeht
' Aus allgemeineren methodischen Gesichtspunkten hat Husssrl, Logische Untersuchun-
gen I^ 192 f., das Richtige und das Verkehrte der MACHschen Okonomielehre l>es]>roclien.
54 Stumpf:
beiis, nie und nirgends ein Interesse daran, Gesetze und Tatsachen auf
weite Strecken liin gesondert zu verfolgen, so würde die bloß abstrakte
Möglichkeit einer solchen Sonderung für die Klassifikation der Wissen-
schaften bedeutungslos sein.
Hiennit erhält aber eine Einteilung nach diesem Gesichtspunkte zunächst
etwas Subjektives. Nicht bloß wegen der angeborenen Geistesanlage der
Einzelnen, sondern auch wegen der bekannten Verschiebung, die Wert-
schätzungen durch die berufs- und gewohnheitsmäßige Beschäftigung mit einer
Sache erleiden. Das an sich Sinn- und Bedeutungsloseste kann so Gegen-
stand einer absoluten , bedingungslosen Wertschätzung werden. Daß diese
Weitschätzung lucht «vernünftig« sei, pflegt der davon Aflfizierte nicht
zuzugeben. Immerhin, durch Selbstbesinnung, durch sorgfältige Analyse
des eigenen Bewußtseins, dui-ch Nachpiöifung der erworbenen Wertschät-
zungen und ihrer allmählichen Entstehung läßt sich mancher bloß gewohn-
heitsmäßigen individuellen Über- oder Unterschätzung entgegenwirken. Und
objektiv betrachtet wird man Forschungsziele , die durch Jahi-tausende fort-
bestehen oder innner wiederkehren, die von den unbefangensten, weit-
l^lickendsten Geistern um ihrer selbst willen angestrebt werden, nicht als
zufallige , durch bloße Handwerksgewöhnmig festgew^ordene Verkehrtheiten
ansehen wollen.
Um die Feststellung des Individuellen als solchen sehen wir nun weit-
aus am intensivsten die Geschichtsforschung bemülit ; Geschichtsforschung
natürlich nicht bloß im Sinne der politischen Geschichte verstanden, sondern
auch der Philologie und aller auf Kenntnis menschlicher Vergangenheit ge-
richteten Bestrebungen. Mit wenigen Ausnahmen zielt die Arbeit der Histo-
riker heute noch auf das Individuelle. Ich kann dies nicht fiir einen un-
voUkonnnenen Zustand, sondern mit Ed. Mkyer^ in der Tat nur fiir eine
wissenschaftlich vollwertige, auf sich selbst gestellte» Forschungsrichtung
halten , daher ihm auch nm- beipflichten , wenn er gegenüber den Tendenzen,
auch in der Geschichtsforschung allgemeine Gesetze trotz des geringen
bisherigen P^rtrages als Hauptsache hinzustellen, zm* alten Auffassung zu-
rückkehrt. In das Tatsächliche, Individuelle nmß man dabei nach dem
oben Bemerkten auch die Schicksale der Individuengruppen, Stämme, Völker,
man muß femer den tatsächlichen Kausalzusanmienhang einschließen.
* Zur Theorie und Methodik der Geschichte 1902.
Zar Einteibmg der Wissenschaften. 55
Bezüglich des letzteren entstellt allerdings die Frage, ob nicht die
Erkenntnis eines individuellen Kausalzusammenhanges hier wie bei den
Xaturvorgängen stets schon mit der Erkenntnis eines Gesetzes zusammen-
falle. Bei den Xaturvorgängen wii'd niemals die Abhängigkeit dieses b
von diesem a erkannt, ohne daß zugleich die Abhängigkeit eines solchen
b von euiem solclien a erkannt wurde, das Gesetz also, daß immer, wenn
ein gleicher Bedinginigskomplex a gegel>en ist, eine gleiche Folge b ein-
tritt. Ob dies nun aui' dem historischen Gebiete sich ebenso verhält, l>rauchen
wir hier nicht zu untersuclien; denn auch im bejahenden Falle winl doch
die Verteilung des Interesses verschieden sein. Das Interesse des Ge-
schichtsforschers wird in erster Linie auf den individuellen Zusammenhang
als solchen gerichtet bleil)en , das des Naturforschers unweigerlich auf den
allgemeinen übergehen. Daß ein Sokrates unter gleichen Umstanden not-
wendig wieder dieselben Reden über Unsterblichkeit halten und in derseU)en
Verfassung den Giftbecher trinken wimle, könnte vollkommen wahr sein,
aber Interesse könnten doch mu* allgemeinere Sätze gewinnen , die von den
individuellen Verschiedenheiten des Falles genügend absähen, um auch
auf andere Fälle in historisch al)sehbarer Zeit anwendbar zu werden , inid
die dabei gleichwohl j)räzis genug blieben, lun ims nicht bloß dämmenuh*
Ahnungen, sondern wirkliche Erkenntnisse zu gewähren.* Daß mehr oder
weniger vage Gesetzlichkeiten sich auch dem Geschichtsforscher aufdrängen
und zu seinen intellektuellen Hochgefühlen beitragen, wird keiner bestreiten.
Aber was an »historischen Gesetzen« mit dem Anspnu'li auf Exaktheit
hislier aufgestellt wurdcs liat auf Besonnene eher abschreckend gewirkt.
Dieses Fehlen beweisbarer und genauer Gesetze braucht nicht an der menscli-
lichen Willensfreiheit zu lit»gen; es genügt vollkommen die ungelieuere Ver-
wickelung der Kräfte und Bedingungen, um die Sachlage zu verstellen.
Für einzelne Gebiete menschlichen Tuns, wie für die Entwickelung des
wissenschaftlichen Denkens oder der Sprachfonnen , wo die Bedingungen
nicht ganz so zahlreich und mannigfaltig sind wie in der politischen Gc-
* Der Schrift Poincarks ■Wissenschaft und Hypothese- entnehme ich ein Diktiiiii
CABLTLBSy das schf drastisch den Gegensatz bezeichnet. »Der Historiker spricht: Nur die
Tatsache hat Bedeutung. Johann ohne Land ist hier vorbeigegangen — das ist bemerkens-
wert, das ist eine tatsächliche Wahrheit, für die ich alle Theorien der Welt hergeben würde.
Der Physiker dagegen : Johann ohne Land Ist hier vorbeigegangen — das ist mir sehr gleich-
gültig , da er nicht wieder vorbeikommt.«
5ß Stumpf:
schichte, lassen sich daher eher Gesetzmäßigkeiten erkennen, die den obigen
Anforderungen nähenmgs weise genügen.
Setzen wir aber einmal den Fall, daß in der Geschichtsforschung mit
der Zeit eine breite Liste bewiesener Gesetze entdeckt würde, die sowohl
durch Allgemeinheit wie durch Genauigkeit mit den Naturgesetzen wett-
eiferten und vielfache Anwendungen auf neue Einzelfälle gest^atteten. Selbst
dann würde das selbständigem Interesse der Geschichte im alten Simie nicht
verschwinden, nicht einmal geringer werden. Sie Avüi*de neben jener (ie-
setzeswissenschaft als eine» unabhängige* Forschungsrichtung von höchstem
Eigenwerte weiterbestcshen. Uie Ursache dieser Sonderstellung der Men-
schengeschichte liegt augenscheinlich darin, daß in ilir imd nur in ihr
alles, was uns unmittelbar wertvoll erscheint, alle Kämpfe imi diese
Güter, alles Glücken und Mißglücken in diesen Kämpfen in zeitlicher Aus-
breitung verwirklicht ist. Denn nirgends als im geistigen Gebiete gibt es
fiir uns unmittelbare, wahrhaft mn ihrer selbst willen zu erstrebende Werte;
und sie kommen nur zur Verwirklichung in der Wirksamkeit des Individuums
innerhalb der gleichfalls individuellen historischen Gemeinschaften, in der
Geschichte staatlicher Gebilde wie in der geschichtlichen Seite alles geistigen,
wissenschaftlichen, religiösen, künstlerischen, wirtschaftlichen Lebens. Ül)er-
all ist es das Einzelne als solches, an seinem Ort, in seiner Zeit und in
seiner individuellen Verknüpfung mit dem unmittelbar Vorangelienden und
Folgenden , das , abgesehen von allen Gesetzlichkeiten , zur Erforschung reizt
und zwingt. Nur muß das »Einzelne« in dem Sinne verstanden werden,
daß auch die KoUektiva darunter fallen (s. oben S. 47). Die Unzähligen, die
die Pyramiden aufscldchteten , interessieren uns nur als Ma^sse.
Insoweit könnte ich auch Windelhan ds Ausfuhrungen über »nomo-
thetische und idiographische Wissenschaften«^ nur zustimmen. Wenn er
aber diesen Gegensatz auch als den von »naturwissenschaftlichen und
historischen Disziplinen« bezeichnet, so würde ich ihm nur mit der
Einschränkung folgen, daß Natm'wissenschaft die glänzendsten Beispiele
empirischer Gesetze, Geschichte das interessanteste Tatsachenmaterial dar-
bietet. Vollends widersprechen endlich muß ich seinem Vorschlage, diesen
Gegensatz dem zwischen Natm*- imd Geisteswissenschaften als einem min-
destens fraglich gewordenen zu substituieren. Vielmehr müssen beide
Geschichte und Naturwissenschaft. Straßburger Rektoratsrede 1894.
Zur Einteilung der Wissenschaften, 57
Untei-scheiclungen nebeneinander fortbestehen, wie sie seit Descwrtks neben-
einander bestanden haben. Die treibenden Motive der vSubstitution , die
WixDELUAXD angibt, kann ich als zwingende niclit anerkennen. Sie liegen
ihm einerseits in den »Stimmungen der neuesten Philosophie« gegenüber
d<T alten sachlichen Scheidung von Natur mid Geist, andererseits in der
jiaturwissenscliaftlichen Wendung der gegenwärtigen Psychologie. Von der
letzten war bei-eits die Rede, (xegenüber der ersten Krwägtmg aber halte
ich dafiir, daß man eine Scheidung, die »in der neueren Metaphysik von
Des<'artes und Spinoza bis zu SniELLixG und Hegel mit voller Schroffheit
aufrechterhalten worden ist«, nicht um gewisser, keineswegs allgemein
i^eteilter und früher oft ebenso stark vorhandener, Stimmungen willen preis-
zugeben braucht. Mag der ersehnte Schlußeffekt imserer philosophischen
Bestrebungen immer Monismus sein oder heißen, vorläufig ist fiir den
nüchternen Betrachter noch nichts von einer Identität zwischen <len (ie-
setzen elektrischer Ströme und den Gesetzen der Gedanken- und Willens-
bildung zu entdecken. Die Einteilung der Wissenschaften soll aber unsere
Kinsicht in die gegenwärtige Struktur des Wissens zum Ausdnurk bringen,
nicht Hoffnungen auf eine künftige.
Nicht einmal dies kann man behaupten, daß das Interesse der Ge-
schichtsforschung oder gar der Geisteswissenschaften überhaupt ausschließ-
lich auf das Individuell -Tatsächliche, das der Naturforschinig ausschließlich
auf Gesetze gerichtet sei. Offenbar erstreben viele (ireisteswissenschaften.
auch abgesehen von der Psychologie, gesetzliche Fonnulieiningen , und
manchen von ihnen, wie der Nationalökonomie, ist die Auftindung solcher
bereits geglückt, zum mindesten in der Exaktheit wie etwa der Meteoro-
logie unter den Naturwissenschaften, teilweise sogar mit mathematischer
Fonnidienmg.* Das Mißtrauen, das man der Geschichte im gewöhnlidien
Sinn entgegenbringt, wenn sie nacli Gesetzen fahndet, gilt nicht in gleichem
Maße för die Geisteswissenschaften schlechthin. Auch jene allgemeine
WertwLssenschaft , die Windelbaxd und Rukert anerkennen,' was ist sie
* Vgl. hierüber namentlich die akademische Antrittsrede F. Eulbnburos «Gesellschaft
und Natur* 1905, S. 16 f. (mit besonderer Beziehung auf Rickerts Theorien).
über die bisherigen Anwendtmgen der Mathematik auf Nationalökonomie s. die aus-
fuhrliche Zusammenstellung von Pareto in der «Enzyklopädie der mathematischen Wissen-
schaften« I, 1094 f.
• Sie ist ihnen identisch mit der Philosophie der Zukunft (nach Ausschluß der Psy-
chologie). Selbst die Prinzipien der Erkenntnistheorie sollen, da Wahrheit in erster Linie
Philot.'hisior. Abh. 1906. F. 8
58 Stumpf:
anderes als eine Wissenschaft von (Tesetzen? (besetzen allerdings von
anderer Form wie die Naturgesetze, aber doch insofern ihnen vergleich-
bar und dem Gesetzesbegriff überhaupt subsmnierbar. als allgemeine imd
notwendige Beziehungen darin ausgesproclien werden, nämlich Beziehung(*n
bestimmter Willensinhalte oder Willensfonnen zu darauf gerichteten Wert-
urteilen.^
Umgekehrt läßt es sich doch auch nicht vertreten, daß das Ziel des
Naturforschers überall nui- im Allgemeinen und in den gesetzlichen Be-
ziehungen liege. Dies gäbe ein eben so schiefes Bild der Tendenzen , wie
sie im Geiste der meisten Naturforscher tatsächlich leben, als die fnilier
erwähnte Beliauptung, das Allgemeine habe ihnen ausschließlich Bedeutung
als Bindeglied zwischen Individuellem. Man kann ja auch zwei Ziele zu-
gleich verfolgen , beide im Zusammenhang miteinander, ohne daß das eine
ausschließlich Mittel zum anderen zu sein braucht. Bezweifeln dürfen wir
wohl , ob die Erzählung der Erdgeschichte oder der Vesuvgeschichte , die
Beschreibung der räumlichen Verteilung von Gesteinsarten, von Ptlanzen-
spezies, von Fixsternen noch Gegenstand einer vernünftigen Teilnahme
sein könnte, wenn gar keine Gesetzmäßigkeiten irgendwelcher Art darin
ersichtlich wären, keine genetischen Erklämngen aus allgemeinen Natur-
kräften darauf gegiaindet, auch kein Nutzen für das Leben psychischer
Individuen dadurch erzielt würde, wenn selbst jede Möglichkeit einer künf-
tigen Verwertung in einer dieser Richtungen ausgeschlossen wäre. Ver-
steht man also das pragmatische Interesse in solcher Isolieining, so wiii'de
ich allerdings sein Vorhandensein oder mindestens seine Berechtigung in
der Naturforschung leugnen. Aber eine derartig absolute Isolierung ver-
trägt kein Teil des menschlichen Wissens. Jeder weist zuletzt auf alle
anderen hin. Wir können nur von einem relativ selbständigen Interesse
an Naturtatsachen sprechen, d. h. von einer sehr konzentrierten , vertieften
Beschäftigung mit individuellen Naturobjekten, die zwar bei reflektierender
zu den Werten gehört, in der allgemeinen Werttlieorie befaßt sein. Da nun eine solche
Wissenschaft offenbar keine idiographische ist, muß sie nomothetisch sein, oder es muß noch
ein Drittes statuiert werden. Der letzte Weg scheint mir aber nicht gangbar.
^ Fichte, dessen Ideen in der Philosophie der beiden genannten Forscher nachwirken,
stellte die Sittengesetze sogar in vollkommene Parallele mit den Naturgesetzen. »Unsere
Sittenlehre befiehlt nicht: ebenso wie alle Philosophie hält auch sie sich innerhalb der Ge-
setzmäßigkeit und Notwendigkeit und beschreibet bloß, was da folget und was nicht folget.«
Über das Wesen des Gelehrten, 5. Vorlesung.
Zur Einteilung der Wissenschaften. 59
Zergliederung der Motive auf mehr oder minder femliegende Möglichkeiten
von Gesetzen oder von praktischen Anwendungen fuhren >^iirde, augen-
hlicklich aber nicht vom Bewußtsein solcher Möglichkeiten begleitet ist.
So gefaßt, wird sicli ein vernünftiges Interesse am Einzelnen als solchem
auch im Naturge})iete nicht in Abrede stellen lassen.^
Demgemäß wäre es untunlicli , den Unterschied von Natur- und Geistes-
wissenschaften geradezu durch das Merkmal des auf Gesetze und des auf
Tatsachen gerichteten Forschungsinteresses zu definieren. Es finden sich
sowohl Tatsachen- wie Gesetzeswissenschaften auf beiden Gebieten. Sie
brauchen nicht verschiedene Namen zu tragen; es kaim in einer unter
einheitlicher Bezeichnung zusanmien gefaßten Disziplin gleichzeitig oder ab-
wechselnd die eine und andere Strömung heri'schen. Man wird dann
durch entsprechende Epitheta den jeweiligen Charakter ausdrücken. Bei
der Astronomie ist dies längst üblich. In ähnlicher Weise kann es ander-
wärts geschehen , doch wird man es nicht überall nützlich finden , da eben
das Interesse nicht überall so gleichmäßig auf Tatsachen und Gesetze vei^
teilt ist.*
' Eine von William James neuerdings lebhaft befürwortete und als Pragmatismus
bezeichnete philosophische Richtung will nur solches, das irgendeinen Wert für das Handeln
enehen l&ßt, als würdigen Gegenstand der Forschung gelten lassen; womit also, da alle
Praxis aufs Einzelne geht, das Interesse am Lidivlduellen in aller Wissenschaft alleinherr-
schend werden müßte. Eine noch weitergehende Richtung, die sich eigentümlicherweise
Humanismus nennt und von dem Engl&nder ScBaLsn geführt, von James aber gleichfalls
hochgestellt wird, erblickt in der Nützlichkeit für das Handeln sogar das Kriterium und die
Definition der Wahrheit. Wir haben auch in Deutschland verwandte Strömungen. Die
pragmatische Fassung ließe sich wohl akzeptieren, wenn man nur den BegrifT des Handelns
weit genug nimmt (nPATreiN, nicht bloß hoicTn), und wenn man sehr indirekte, entfernte Be-
ziehungen des Wissens zum Handeln noch gelten läßt; wodurch dann freilich der Satz viel
von smner Prägnanz einbüßt. A. Comtb hielt es noch für unnütz, die Bestandteile der Sonne
zu erforschen, weil damit nichts f&r das Wohl der Gesellschaft gewonnen werde. Wir
denken darüber doch jetzt anders. Was aber die »humanistische«, richtiger utilitaristische
Wahrheitsdefinition betrifft, so scheint sie mir als solche schlechterdings unannehmbar. Für
die Cotwickelungsgeschichte des Wahrheitsbewußtseins mag der zugrunde liegende (ledanke
allenfalls eine gewisse Bedeutung haben, aber nicht für seine Definition. Man würde sich
damit nur immerfort im Kreise drehen.
* Im obigen ist auf die eingehenden Untersuchungen H. Rickeei^ (Die Grenzen der
natorwissenschafUichen BegrifTsbildung 1896. Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft 1899.
Der Gegenstand der Erkenntnis 1904, i. Aufl. 1892) nur insoweit Bezug genommen, als sie
sich mit WiMDELBAMDS Grundgedanken berühren. Ich weiß wohl, daß Rickbrt den Geistes*
Wissenschaften eine ganz andere Art von BegrifTsbildung zuschreibt als den Naturwissen-
60 S T U M P F :
Es liegt lii(»r auch der Grund, weshalb wir als Gegenstand der Natm--
forschung nicht etwa bloß die (iesetze der objektiv realen Welt, sondern
diese selbst, die Träger dcT raunizeitliclien Gesetzlichkeiten bezeichnet
haben (S. 16). Für die Physilc (und C-hemie) ginge das erste wohl an,
fiir die übrigen Naturwissenschaften dagegen nicht, da ihr Interesse nun
einmal nicht ausschließlich auf G(\s(^tze gerichtet ist. Unsere Formulierung
trägt dem Rechnung. Auch die Physik fällt darunt(T: es ist nur der
Unterschied, daß Physik die elementaren Träger der Gesetze eben auch
nur wegen der Gesetze selbst braucht und das Individuell -Tatsächliche
daran ihr gleichgültig ist, während die sonstigen Natm-wissenschaften auch
dieses zu interessieren vemiag.
Woher übrigens der Unterschied kommt, ist leicht einzusehen. Die
letzten Massenteilchen eines und desselben Stoffes unterscheiden sich (liir
unsere Erkenntnis wenigstens) nur noch durch den Ort, den sie in einem
l^estinnnten Z(ütpunkt einnehmen. Nun wäre es ja eine an sich denkbare,
wenn auch niemals in weiteren Grenzen ausfiilirbai-e Aufgabe, die Bewe-
gungen eines individuellen Massenteilchens während einer bestimmten Zeit-
dauer, sagen wir im 18. Jahrhmidert n. Chr., zu beschreiben. Aber wenn
man sich dabei aller Angaben über die Umgebung, etwa über den Körper
einer berühmten Persönlichkeit öder die Flüsse und Länder, die es durch-
wanderte, enthielte und sich auf die Wiedergabe der Raumkui'ven be-
schränkte, die es in dieser Zeit durchlief, so wüi'de niemand die Lange-
weile einer solchen Geschichte überstehen. Erkenntnisse, die den Namen
verdienen , müssen einen ersichtlichen Zusammenhang mit anderen Erkennt-
nissen haben.
Schäften und dann das unterscheidende Merkmal findet. Aber selbst wenn ich zugeben
wollte, daß Wertbegriife für die Untei*suchung und Darstellung des geistigen Lebens im
Mittelpunkte stellen, ja zu seiner Definition dienen können, so würde ich darin doch dicht
einen Unterschied in der Begriüsbildung sehen, sondern nur einen Unterschied im Inhalt
der Begriffe, also einen gegenständlichen Unterschied. Außerdem scheint es mir auf einen
Wortstreit hinauszulaufen, wenn Kickert den Naturwissenschaften nur gesetzliche Be-
ziehungen zuweist, das Interesse an Tatsächlichem aber, das sich auch dort findet, ein histo-
risches nennt £s ist ein historisches, wenn man alle auf zeitlichbestimmte Individuen ge-
richtete Forschung historisch nennt, es ist aber nicht ein liistorisches, wenn der Gegenstand
der Geschichte unmittelbar wertvoll sein soll. Doch möchte ich auf eine nähere Diskussion
wegen der Gefahr von Mißverständnissen meinerseits hier verzichten und verweise auf die
sorgfältige Analyse von Dr. Frischeisen - Köhler im Archiv für systematische Philosophie XII,
225 f., 450 f. Xlll, if.
Zur Einteilung der Wissenscliaften. ßl
3. Ciewisso Uiitereinteilungen der Tatsachen- und der Gesetzes-
wisseiischafteii verdienen noch besondere Beachtung. Will man die Tat-
.saehenwissenseliaften naeli 3Ierknial(*n , die nicht von andern Einti»ilungen
h«*rgen(>nnnen sind, in Gruppen zcTlegen, so kann man dazu die Gesichts-
punkte des Raumes und der Zeit l)enutzen, der »Individuationsprinzipien«,
wenn dieser alte Ausdruck niclit mißverstanden wird: dironologische
und diorologische Einteilung, wie sie A. IIettner vorschlagt.' Bezuglieli
d(T Gesetzeswissenscliaften ergibt sich die Scheidung der Wissenschatten von
besetzen der Koexist(»nz und von G(»setzen der Sukzession, wie J. St. Mill
sich ausdi-iickte, oder von Struktur- und von Kausalgesetzen, wie man
*iie richtiger nennen wird.
Hierbei Ijedarf der Begriff des Strukturg(»setzes und s(»ine Selbstan-
<lii?keit neben dem des Kausalgesetzes einer kurzcMi Erläuterung. Wir ver-
stehen darunter gesetzliche Bezieliungen zwIscIkmi d(»n Teilen eines Ganzen.
I)i<\se B<vJehungen können sehr verschiedenartig sein, es können aucli Al)-
häiigigkeitsbeziehungen dazu gehören , die gh*ichwohl nicht eigentliche Kau-
salbezi(*liung<Mi smd: woliir wii- namentlich im psychischen Gebiete Bei-
spiele haben. Bei den Gegenständen, die aus real trennbai-en Teilen zu-
sammengesetzt sind, wie den empirischen Körpern, schließt die Struktur
sogar aucli eigentliche Kausalbeziehungen, Wecliselwirkiuigen zwischen den
Teilen in sich ein. Die Struktur eines Organismus läßt sich nicIit rein
inoii)h<)logisch unter Vermeidmig jegliclier Kausalbegrifie l)eschrei))en. Aber
die Strukturgesetze im engeren Sinn enthalten soldie Begriffe nicht. Sie
i>ilden eine besoiulere, nicht restlos in Kausalgesetze aullösbare Gruppe
von Gesetzen.
Die sogenannten beschreibenden N a t u r w i s s e n s c h a f t e n sind
wesentlicli Wissenschaften von Strukturgesetzen. Zunächst von solchen der
empirischen Köi^^er, d. h. der aus den Simiesersclieinungc^i direkt gel>ild(*-
ten Gegenstände. Mineralogie, systematische Botanik und Zoologie liandeln
wesentlich nicht etwa von individuellen GegenstÄnden, sondern von der ge-
si'tzlichen Koexistenz bestinnnter sinnlicher Eigenschaften solcher (ieg<»n-
stände. Räumliche Eigenschatten, l)esonders Form uml Größe des (vanzen
und der Teile, a])er auch Farben, Töne und andere Qualitäten, sodann
* Wesen und Methode der Geographie. Geographische Zeitschrift XI (1905). S. auch
Preußische Jahrbucher Bd. 122, S. 269^
62 Stumpf:
Kigentümliclikeiten der Bewegung, des Wachstums, der Absonderungen,
der Form Veränderung, kurz des ganzen sinnlicli wahrnehmbaren Verhal-
tens , koexistieren mit genügender Regelmäßigkeit , um zur Charakteristik der
Gattungen, Arten, Varietäten der Naturgegenstände verwandt zu werden.
Jeder Artbegriff, aber auch jcnler Varietätbegriff bedeutet ein solches em-
pirisches Struktm'gesetz. Wenn nun aucli diese regelmäßige Koexistenz
sinnlicher Eigenschaften, mit anderen Worten: bestimmter Wirkungen auf
unsere Sinne, mehr und mehr aus Kausalgesetzen abgeleitet w^ird (gerade
die Ausnahmen haben am meisten dazu getrieben, kausale Erklärungen zu
suchen, aUe Eigenschaften einer Spezies auf ihre Lebens- und Entwicklimgs-
bedingungen zuräckzuföhren), so muß man doch nicht glauben, daß Struk-
turgesetze im i)hysischen Gebiet überall nur ein Provisorium seien. Viel-
mehr müssen, wenn wir alle Kausalerklarung vollendet denken, neben den
obersten Kausalgesetzen auch oberste Strukturgesetze übrigbleiben, und
zwar dann nicht Regelmäßigkeiten mit Ausnalimen, sondern strenge Gesetze.
Die letzten Eigenschaften oder Ki'äfte der Elementarteilchen werden stets
eine Mehrheit bilden, und ihre Koexistenz muß in jedem Kausalgesetz schon
vorausgesetzt werden. Doch kann diese Betrachtung hier auf sich beinihen.
Daß die beschreibenden Naturwissenschaften ausschließlich gesetzliche
Beziehungen zum Gegenstande hätten , läßt sich indessen wieder nicht be-
haupten. Strukturgesetze bilden nur den Kern. Der Mineralog, der Bo-
taniker kümmert sich doch auch um die Existenz bestimmter Individuen-
gruppen an bestimmten Orten in bestimmten Zeiten. Auch die relative
Anzahl der jeweilig existierenden Individuen ist ihm nicht unwichtig. Ja
sogar die Beschreibung besonders merkwürdiger Individuen, typischer oder
abnonner oder Übergangsbildungen. Der alte Ausdruck »Naturgeschichte«
hebt die Analogie dieser Forschungsrichtung mit der Menschengeschichte
hervor. Dies wird man zugeben , gleichwohl das wesentliche Merkmal der
beschreibenden Naturforschung nicht darin erblicken dürfen, sondern nur
in den Strukturgesetzlichkeiten. Hier gilt eben wieder, daß nur die Auf-
gaben selbst sicli prinzipiell und reinlich sondern lassen, dagegen in der
Ausfiihrung die verschiedenen Forschungsrichtungen nach Bedarf verknüpft
werden.
Füi' das geistige Gebiet gilt durchaus Analoges. Den empirischen
Gesetzlichkeiten der beschreibenden Naturfbrschung vergleichen sich hier
die sozialen und politischen Strukturgesetze. Darunter verstehen wir not-
Zur Eirdeüung der Wissenschafien. 63
w(*iMlige BozHiungeii zwischen den (rliedem eines zeitweilig bestehenden
Verbandes sowie zwisclien den einzelnen, den Verband konstituierenden
Kinrielitungen. z. B. d(»n Reclitseinriehtungen innerhalb des nämlichen Staats-
vcrban<les. I)ies<» systematische, beschreil)ende Politik, wie man sie analog
zu drn systematisclien Naturwissenschaften nennen kann, spielt nur darum
i^cgenüber der auf Kausalgesetze a])zielenden eine geringere Rolle, weil die
Koexistenz der Merkmal«*, wodurcli Art- und Gattungsbegriffe sozialer mid
politisclier (lel)ilde gege])en werden, infolge der rasclien Wandelbarkeit des
^<»istig-gesellschaftliclien Lebens von vornherein eine viel geringere Regel-
mäßigkeit liesitzt. So geht die Erforschung der Sti*ukturgesetze liier rascher
in <lie der Kausalgesetze über. Natürlich gewinnt aucli der Unterschied von
Stnikturgesetz<'n im weiteren und engeren Sinne lüer noch verstärkte Be-
ib'Utung: was man die Struktur einer Staatsverfassung nennt, das umschließt
außer d(*n rein morphologischen Verhältnissen der Teile zueinander eine
Fülle mannigfacher Aldiängigkeitsbeziehungen und Wechselwirkimgen der
ln<lividuen. A))er wiedennn bleiben zuletzt reine Strukturgesetze innerhalb
jimIcs Indivi<luums ü])rig, so daß auch auf geistigem Gebiet^^ die restlose Auf-
lösung der Struktur- in Kausalgesetze undenkbar ist.
Diese element^iren psychischen Strukturgesetze bilden von altei-s h<»r
«inen bevorziigten Gegenstand der nur auf S(»lbstbeobachtung gegi-undeten
I\vchologie, da die genaue Beschreibung dieser statischen Verflechtung
irrist iger Elementarfunktionen zuletzt Grundgesetze liefern muß. Es ist
<Ur Aufgabe der beschreibenden Psychologie.* Übrigens versteht es sicli
auch hier, <laß die begriffliche Trennung von Beschreibung und Erklärung
' Eine solche verlangt Dilthbt als Grundlage der Geisteswissenschaften (Einleitung in
lue Geisteswissenschaften I, 1883, S. 41). Fr. Brentano, der in seinen Wiener Vorlesungen
mehrfach die Psychologie mit dieser Beschränkung durchführte, nannte sie auch •Psychognosie«.
In unseren Sitzungsberichten hat Diltbey 1894 (S. 1309 f.) ihre Aufgaben erl&utert Unter dem
psychischen •Strukturzusammenhang* versteht auch er Struktur g es etze zwischen den Teilen
oder Seiten des psychischen Ganzen (S. 1346). Nur den Begriff eines »teleologischen Lebens-
Zusammenhanges* oder »Zweckzusammenhanges* mochte ich von dem des Stnikturgesetxes
im allgemeinen getrennt halten. Diesen wende ich in gleicher Bedeutung auch auf die
materielle Welt an, selbst auf die unorganische, ja auf die einem einzelnen Atom inne-
wohnenden, es konstituierenden KrSfte, AfSnit&ten usw., bei denen ein Zweck- oder Wert-
xuvammenhan^ nicht ersichtlich bt und jedenfalls nur auf sehr indirektem Wege konstruiert
werden konnte. Mit Rücksicht dsrauf wäre der Ausdruck • Substanzgesetze« passender als
•Stniktuiigesetze« ; doch würde er ohne sprachliche Gewaltsamkeit nur eine weniger all-
gemeine Verwendung gestatten.
64 Stumpf:
in der Praxis nicht so rein durchgcfiihrt werden kann. Keine Stniktur-
wissenscliaft kann ohne alle kausalen Untersnehnngen l)estehen und umge-
kehrt. Besonders wenn man die Aufgabe der Strukturpsyeliologie auf die
Besehreil)ung der aufeinanderfolgenden Kntwicklungsstadien des Seelen-
lel)ens ei*streckt (analog etwa der Embryologie), so rückt die Frage nach
den treibenden Kräften in unmittelbare Nähe, und solche Kräfte können
dann natürlich auch nicht bloß innerhalb der seelischen Funktionen selbst
gesucht werden, sondern verlangen die Mitberücksichtiginig der organischen
Prozesse.
Auch ist zu bemerken, daß die psychischen Strukturwissenschaften
wie die physischen niemals reine Gesetzeswissenschaften sind, sondern die
Dai'stellung von Tatsachen, hier also von individuellen, existierenden oder
dagewesenen, Persönlichkeiten und Verbänden in ihr Bereich ziehen. Bei-
spielsweise wollte des Aristoteles große Beschreibung von Staatsverfassungen
sicher nicht bloß ErläuterungsfSlle für allgemeine Sätze vorfuhren, sondern
zunächst über Einzelnes als solches, wie es nun einmal war, berichten.
Aber das Gesetzliche lag dem Stagiriten gleichwohl im Sinn, und in den
Büchern über Politik ist es herausgehoben.
Die von uns als Phänomenologie bezeichnete Wissenschaft fuhrt streng
innerhalb ihrer Grenzen nur zu Strukturgesetzen. Die Summe der allge-
meinen Beziehungen der Töne zueinander, der Farben zueinander, der gleich-
zeitig gegebenen Ersclieimmgen aller Sinne untereinander usf. ist die Struktur
des Erscheimmgsgebietes. Geht die Phänomenologie zur Erforschung von
Kausalgesetzen über, so mündet sie in Physik, Physiologie oder Psycho-
logie (in letztere, sofern Kausal))eziehungen zwischen Erscheinungen und
psychischen Funktionen angenommen werden).
YII. Homogenes und Nichthomogenes. Mathematik.
Die Stellung der Matln^matik im System der Wissenschaften richtig
zu bestimmen, gehört zu den schwierigsten Aufgaben. Was wir im folgenden
darüber zu sagen versuchen , macht nicht den Anspruch , als befriedigende
Lösung zu gelten. Die mächtige Entwickelung der mathematischen Dis-
ziplinen , die selbst dem Fachmann die Übersicht und das Urteil erschwert,
legt d(^m Nichtfachmaim eine starke Reserve auf. Trotzdem ward man da-
nach streben müssen, die fachmäimisclu^n (irundlegimgen mit den Begriffen
Zur Emteüung der Wissenschaften. 65
und Erkenntnissen der gleichfalls fortschreitenden philosophischen Doktrinen
in Einklang zu bringen.
1 . Als das nächstliegende Kennzeichen, um die mathematischen Wissen-
schaften gegen alle übrigen abzugrenzen, bietet sich die Verschiedenheit
der Methode dar, der apriorischen gegenüber der aposteriorischen. Diese
Unterscheidung besteht trotz der entgegenstehenden Versuche, die Mathe-
matik den Naturwissenschaften beizugesellen, meines Erachtens zu Recht.
J. St. Mills induktive Herleitung der mathematischen (wie der logischen)
(irundsätze aus einer Sammlung vieler Einzelerfahrungen bewegt sich offen-
sichtlich im Kreise. Der Hinweis aber auf die mehrfachen Geometrien,
die durch Voraussetzung verschiedener Axiome gleichberechtigt nebenein-
ander treten, beweist nichts weniger als die Aposteriorität der Geometrie,
(leben wir zu, daß sie als logisch gleich widerspruchsfreie einander koor-
diniert seien (auf welche Frage hier nicht eingegangen werden soll), so
ist dann doch jede der nichteuklidischen Geometrien ebenso wie die eukli-
dische aus Axiomen und Definitionen abgeleitet (bzw., wenn man mit
Neueren nur von Definitionen sprechen will, aus bloßen Definitionen). Wir
haben statt einer apriorischen Wissenschaft deren drei, entsprechend den
drei verschiedenen Raumarten, aber ihr logischer Charakter ist dadurch
in keiner Weise geändert.
Die Methode, die Art der Beweisführung, kann also hier sehr wohl
als ein scharfes und zutreffendes Kriterium fiir eine Scheidung der Wissen-
schaften benutzt werden; wobei dahingestellt bleiben mag, ob noch andere
Wissenschaften außer den mathematischen unter die Gruppe der apriori-
schen fallen würden. Aber der Unterschied der Methoden muß doch wieder
in einem Unterschiede der Gegenstande wurzeln, die den denkenden Geist
im einen Falle zu dieser, im anderen zu jener Art des Aufbaues von Ur-
teilen und Schlußfolgerungen veranlassen. Die so entstehende Frage soll
hier nur für die Geometrie untersucht werden, da sich ihr Gegenstand
immer noch am besten im Anschluß an den Ausgangspunkt alles Wissens,
die Phinomene, definieren läßt, und da sie zu besonderen Streitigkeiten
Anlaß gegeben hat.
2. Welches ist also der Gegenstand der Geometrie?
Es ist nicht der objektiv-reale Raum. D.h. nicht jenes hypo-
thetische X, das wir behufs Bildung des Begriffes physischer Gegenstände
und Au&teUung physikalischer Gesetze als unabhängig vom Bewußtsein
Pkäo8.-hi»lmr. Ähh. 1906. F. 9
66 Stumpf:
existierend voraussetzen. Diesem objektiven Räume schreiben wir bestimmte
Eigenschaften und innere Verhältnisse zu , wie sie zu den genannten Zwecken
angemessen scheinen; und zwar entnehmen wir solche Eigenschaften und
Verhältnisse probeweise denen des geometrischen Raumes. Aber vorher
muß der geometrische Raum selbst im Bewußtsein gebildet und müssen
seine immanenten Gesetzlichkeiten untersucht sein. Dies allein ist die Auf-
gabe der Geometrie , solange sie eine einheitliche Wissenschaft bleiben soll.
Hierüber muß vor allem Einigung erstrebt werden. Welche Beschaflfen-
heit des Objektiven wir vorauszusetzen haben , um den Erscheinungen ge-
recht zu werden, um physikalische Gesetze zu foi-mulieren, um daraus
neue Erscheinungen vorherzusagen, das ist ausschließlich Angelegenheit
des Physikers. Daß er dazu überhaupt eine Art von Raumwelt braucht
und nicht etwa mit einer Geruchs- oder Ton weit auskommt, ist nach den
bisherigen Erfahrungen gewiß, aber nicht a priori selbstverständlich. So
gehört auch die Dimensionenzahl unter denselben rein empirischen Gesichts-
punkt (wie denn Zöllner aus empirischen Gründen, freilich mit ganz falschen
Schlüssen , die Vieraahl erweisen wollte). Andere und allgemeinere Fragen
über den objektiven Raum sind zugleich physikalisch und metaphysisch,
z. B. inwiefern er sich vom phänomenalen Raimi unterscheiden muß, ob
Gründe fiir seine Endlichkeit oder Unendlichkeit sprechen u. dgl. Nichts
von alledem fallt in das Reich geometrischer Untersuchungen. Sie lehren
nirgends die Existenz eines Raumes oder räumlicher Gebilde, entscheiden
nicht über Eigenschaften existierender, sondern über die gedachter, hypo-
thetischer, durch Definitionen willkürlich erzeugter Raumgebilde. Wohl
kami man niemand hindern, jene Aufgaben mit diesen zu verbinden. Aber
in dem Augenblick, wo es geschieht, ändert sich mit der Fragestellung
auch die ganze Untersuchungsweise so grund wesentlich , daß die Einheit-
lichkeit der Wissenschaft damit verloren geht. Mehr als irgendwo hängt
in den mathematischen Disziplinen die Einheit der Wissenschaft an der
Einheit der Methode und die Einheit der Methode an der Einheit des
Objektes. Und es dürfte nicht zweckmäßig sein, hiervon abzugehen.
Hier müssen wir sogleich auf die nicht -euklidische Geometrie zurack-
kommen. Physikalisch betrachtet müßte man die drei Geometrien (immer
ihre gleichmäßige logische Widerspruchsfreiheit vorausgesetzt) in der Tat
als drei mögliche Hypothesen bezeichnen, unter denen die euklidische
sogar an innerer Wahrsclieinlichkeit unendlich gegen die beiden anderen
Zur Einteilung der Wissenschaften. 67
zurückstände, da jede von diesen unendlich viele gleichmögliche Einzel-
fälle einschließt und die euklidische nur den Grenzübergang zwischen den
b<*iden Unendlichkeiten bildet. Aber die Entsdieidung über diese Hypo-
tliesen würde eben der Physik zufallen. Die charakteristische Krünimungs-
konstaute des objektiven Raumes wäre, wie alle sonstigen Konstanten,
nur durch zahlreiche Messungen mit Wahrscheinlichkeit bestimmbar. Bei
dieser physikalischen Fragestellung handelte es sich dann nicht mehr um
die Eigenschaften und Gesetze dreier verschiedener möglicher Räume, son-
dern um drei mögliche Eigenschaften eines und desselben Raumes , nämlich
des vorauszusetzenden objektiven Analogons. Dies sind prinzipiell ver-
seliiedene, aber sehr häufig dureheinandergemengte Fragestellungen.
Geometrie im rein mathematischen Sinne (die ursprüngliche Wortbe-
deutung kommt dabei nicht in Betracht) will nur sagen, was aus gewissen
Bt'grüfen, wenn sie im Denken gesetzt werden, im Denken folgt, dies aber
in der durchsichtigsten und zwingendsten Fassung sowohl der Begriffe als
der Folgerungen, unabhängig von Feststellungen individueller Tatsachen
und von Wahrseheinlichkeitsschlüssen aus solchen. »Physische Geometrie«'
ist schon Physik.
Darum fallt meines Erachtens der berühmte Versuch, die Winkel-
summe eines großen Dreiecks durch Messung, d. h. durch Schlüsse aus
Beobachtungen, zu ermitteln, aus dem Rahmen der Geometrie heraus. Eben-
so scheint mir aber auch schon die Fragestellung, die zu solchem Appell
an die Beobachtung fiihrte, keine geometrische zu sein; nämlich: ob geo-
metrische Gebilde durch hinreichende Vergrößerung ihre Eigenschaften,
etwa ihre Winkelsumme, verändern können, bzw. ob in solchem Falle
\orher immerkliche Abweichungen zuletzt merklich werden können. Die
Frage läßt sich nur fiir physische Dinge aufwerfen. Selbst da ist sie
vielleicht nicht so einfach zu formulieren. Immerhin hauchtet ein, daß
bei Bewegungen über große Entfernungen hin ein vorher uimierklicher Ein-
fluß von Ki-äften auf die Bahn des bewegten Körpers in die Erscheinung
treten kann, ebenso wie umgekehrt bei kleinen Entfernungen Kräfte auf-
treten können, die bei großen fehlen oder uns entgehen. Aber der Geo-
ineter als solcher hat nicht Veränderungen diu'ch Ki'äfte zu untei'sucheii.
Seine Gebilde existieren lediglich auf Ginind ihrer Definition. Solange das
Vgl. V. Helmboltz, Wissenschaftliche Abhandlungen, II, 648 f.
68 Stumpf:
Moment der absoluten Größe nicht direkt oder indirekt in die Definition
aufgenommen ist, sind Unterschiede in dieser Beziehung irrelevant fiir die
Beziehungen der Teile eines Gebildes imtereinander.
Es gilt Analoges, wie för die Größe, auch für die Richtung und Lage.
Man könnte z. B. fragen , ob es denkbar sei , daß ein räumliches Gebilde
durch bloße Drehung um eine Achse seine Größe vei-ändere. Die Frage
hätte Sinn wiederum nur für physische Dinge. Eine solche Veränderung
kann hier als Folge bestimmter Kräfte eintreten. Es wären vielleicht sogar
allgemeine Bewegungsgesetze denkbar, die das Volimaen oder die Masse
eines bewegten Teilchens abhängig setzten von Richtungs- oder Geschwin-
digkeitsänderungen seiner Bewegung (die Elektronenlehre fiilirte auf solche
Vermutungen). Aber Bewegungsgesetze sind nicht geometrische Gesetze.
Die Größe einer Geraden kann nicht von ihrer Richtung oder Lage im
Raum abhängen, weil keine Richtung oder Lage uns hindern kann und
darf, eine eimnal begriflflich definierte Größe als solche festzuhalten."
Nachdem die Überzeugung allgemein geworden, daß auch die festesten
physikalischen Gesetze, selbst die ftlschlich so genannten »physikalischen
Axiome«, nicht geschützt sind gegen Umbildungen infolge fortschreiten-
der Tatsachenforschung, hat man auch die geometrischen Voraussetzungen
unter denselben Gesichtspunkt gestellt. Der Unterschied sei nur, daß sie
bisher durch noch viel umfassendere Beobachtungen bestätigt seien als die
mechanischen Grundgesetze. An sich spreche nichts fiir sie außer der
Bequemlichkeit, da man es natürlich mit den einfachsten Annahmen zu-
erst versuche. Vielleicht ist nun diese Bequemlichkeitstheorie selbst etwas
> Natorp sagt in einem Aufsatze, dem ich in vielen Punkten zustimme (Archiv f.
systemat. Philosophie VIT, 374): »Denkt man sich ein physikalisches Gesetz, nach welchem
jede Verschiebung von Körpern bestimmte Änderungen der Lage- oder Maßbeziehungen der
Körper mit sich brächte, so kostet es der reinen Geometrie gar niclits, diese Änderungen
stets gleichzeitig wieder in Abrechnung zu bringen . . • Die Aussage über eine veränderliche
Beziehung setzt die über die unveränderliche logisch voraus.*
Ähnliches auch bei J. v. Kries, Über Real- und Beziehungsurteile, Vierteyahrsschrift
f. wissensch. Philosophie XVI, S. 271 f., und bei A. Riehl, H. v. Uelhholtz in seinem Ver-
hältnis zu Kant (1904) S. 39. Mit Riehl und Natorp kann ich nur in Hinsicht der Kant-
schen Raumlehre nicht übereinstimmen.
Auch ein mir bei der Korrektur soeben noch zukommender zweiter Artikel Meinongs
»Über die Stellung der Gegenstandstheorie usw.« (vgl. oben S. 40) kommt zu Endergebnissen,
die sich mit dem Obigen berühren oder decken. Allerdings glaube ich nicht, daß die Frage
nach dem Parallelenaxiom durch bloße Berufung auf die Evidenz erledigt werden kann.
Zur Einteilung der Wissenschaften. 69
— bequem. Jedenfalls möchte ich aber die Parallele bestreiten. Die geo-
metrischen Pi-inzipien (ob man sie Axiome im eigentlichsten Sinne der
Logik, d. h. unmittelbar einleuchtende Gesetze, nennen kann, bleibe auch
für sie dahingestellt) sind nicht, wie die mechanischen, Voraussetzungen
über cm Verhalten objektiver Dinge. Die daraus gezogenen Folgerungen
bedürfen daher keiner Verifikation. Das Expciiment wird gelegentlich als
Vorläufer geometrischer Erkenntnisse benutzt (Archimei>es' Wägungen von
Parabelsegmenten). Aber daß ein »more geometiico« bewiesener Lehrsatz
durchs Experiment widerlegt würde, ist ausgeschlossen, nicht wegen irgend-
einer mystisch -urewigen Würde, sondern einfach weil die Gegenstände des
Experimentes nicht seine Gegenstände sind.
Es ist ebenso in allen übrigen Zweigen der Mathematik. In der Wahr-
scheinlichkeitslehre haben einige Forscher sich die Mühe genommen, das
Gesetz der großen Zahlen experimentell nachzuprüfen. Hätten sie aber
dabei eine größere Abweichung in der Verteilung der Fälle gefunden , als
das Gesetz selbst vorher zu berechnen gestattete, so hätte man gleich-
wolil nicht auf die Falschheit des Gesetzes geschlossen und ihm eine
empirische Korrektur beigefiigt, sondern man hätte den Grund der Ab-
weichung in den zufälligen Umstanden des Experimentes gesucht, etwa in
ungenügend homogener Struktiu* der individuellen von jenen Forschem
benutzten Würfel, also in einer konstant wirkenden Ursache, die in dem
Gesetz ausgeschlossen ist.^ Analog würde man schließen , wenn Messungen
mit geometrisch bewiesenen Lehrsätzen in Konflikt kämen.
Auch die Ansicht, geometrische Lehrsätze könnten allenfalls nur ap-
proximative Gültigkeit besitzen, ruht auf einer Verkennung ihres Gegen-
standes. Genauigkeitsgrenzen gibt es nur in der Anwendung auf reale
FäUe. Sind drei Geometrien einander koordiniert, so ist doch wieder jede
von ihnen als solche absolut genau, die Winkelsumme des Euklidischen
ebenen Dreiecks beträgt z. B. absolut genau 2 R.^
^ Vgl. Über den Begriff der mathematischea Wahrscheinlichkeit, Sitzungsber. d. MQn-
ebener Akademie d. Wiss., Philos.-philol. Kl., 1891, S.79f.
* Clivfobo bemerkt (Über die Ziele und Werkzeuge des wissenschaftlichen Denkens
S.io), die Behauptung, dieses hier sei genau ein Pfund Zucker, könne Hlr den Mathe*
matiker (zum Unterschied vom Chemiker) nur folgendes bedeuten: »Angenommen, die
Masse des genauen Pfundes sei dargestellt durch eine Länge, sagen wir einen Fuß, abgetragen
auf einer bestimmten Linie, so daß ein halbes Pfund duixh 6 Zoll usf. dargestellt sein wQrde;
dann möge die Differenz zwischen der Masse des Zuckers und der des genauen Pfundes in
_J
70 Stumpf: .
In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Geometrie durchaus nicht
von der Arithmetik. Eine approximative Geometrie würde, solange wir
(Jeometrie noch von Physik unterscheiden, nicht sinnvoller sein als die
Behauptung, 2X2 sei nur annähernd = 4. Natürlich ist die Aufstellung
von Annähei-ungsregeln fiir die Ausrechnung bestimmter Werte oder för
Konstruktionen damit nicht ausgeschlossen; und es können darauf bezüg-
liche Sätze, wie der von Legendke über kleine sphärische Dreiecke, fiir
praktische Anwendungen von größter Wichtigkeit sein. Auch kann es sich
empfehlen, solche Übergangsbestimmungen, die die reine mit der ange-
wandten Geometrie verknüpfen, in den Vortrag der reinen Geometrie ein-
zuflechtcn. Aber sachlich bilden sie doch ein fremdes Element. Daß Kon-
ventionen wie diese: zwei Zahlen gleich zu nennen, wenn sie sich von-
einander um weniger als eine noch so kleine vorgegebene Größe unter-
scheiden (Weierstrass), der absoluten Genauigkeit der bestimmten auf sie
gegründeten und sie einschließenden Lehrsätze keinen Eintrag tmi, bedarf
nach der Natur der Konventionen nicht der Begründimg.*
Auf Grund dieser Erwägimgen können wir der neuerdings so oft
vertretenen Auflfassimg, Geometrie sei eine Naturwissenschaft, die sich
mit den Eigenschaften des realen Raumes beschäftige, nicht zustimmen.
Im übrigen kommt auch hier der Unterschied zwischen Gegenstand und
Zweck in Betracht, dessen schon bei den Erläuterungen über die Physik
Erwähnung geschah (oben S. 16). Wer eine »physische Geometrie« als den
demselben Maßstab auf derselben Linie abgetragen werden: würde man nun diese Differenz
unendlicli vielmal vergrößern, so würde sie noch immer unsichtbar bleiben.« Ich meine, dies
sei der Sinn für einen mathematisch gebildeten Physiker oder Chemiker. Der Mathematiker
hingegen hat als solcher mit einem Pfund Zucker schlechterdings nichts zu schafTeD. Und wer
sieht nicht, daß der Begriff einer Differenz (sei es auch einer unendlich kleinen) zwischen dem
Gewichte des Zuckers und dem des genauen Pfundes den Begriff des genauen Pfundes schon
voraussetzt, daß man also die empirische mit Hilfe der idealen Genauigkeit definiert? Ks ist
klar, daß überhaupt in allen Fällen, wo ein •annähemd« irgendeinem Begriffe beigesetzt
wird, derBegriff, dessen Anwendung durch dieses Epitheton eingeschi-änkt werden soll, in sich
selbst absolut genau genommen werden muß , wenn die Einschränkung einen Sinn haben soll.
^ F. Klein unterscheidet in seinen \'orlesungen über Anwendung der Differential-
und IntegraU'echnung auf Geometrie (1902) Präzisionsmathematik und Approximationsmathe-
matik und fuhrt diese Unterscheidung in seiner ganzen Darstellung durch. Aber er denkt
selbstverständlich nicht daran, die zweite an die Stelle der ersten zu setzen, bezdchnet
vielmehr, ganz den Betrachtungen der vorigen Anmerkung entsprechend, die Präzisions-
matfaematik als das feste Gerüste, an dem sich die Approximationsmathematik emporrankt,
und die letztere nur als eine Angelegenheit der praktischen Anwendungen (S. 12 — 13).
Zur Emteiiung der Wissenschaften. 71
eigentlichen Zweck aller geometrischen Untersuchungen ansieht, wird doch
nicht umhin können, eine rein mathematische Geometrie als umfassende
Vorarbeit für die physische zu fordern.^ Und diese mathematische kann
nicht durch den Zweck, sondern muß durch ihren Gegenstand definiert
Herden. Es ist also auch fiir den, der in der reinen Geometrie keinen
Selbstzweck sondern nur ein Mittel für physikalische, ja sogar nur fui-
praktisch- technische Zwecke sehen wül, der Gegenstand dieser Wissenschafl
damit noch keineswegs als ein physikalischer Gegenstand erklart.
3. Ihr Gegenstand ist aber auch nicht der phänomenale Raum.
Einen Augenblick könnte man wohl daran denken, Geometrie in die
oben charakterisierte Phänomenologie einzuordnen, als Lelire von den Struk-
turgesetzen des Erscheinungsraumes, als ein höchstentwickeltes, hybrides
Glied jener sonst noch so jungen Disziplin. Für die übrigen mathematischen
Fächer würde man dann, da man Zahlen und Funktionen doch nicht unter
die Erscheinungen rechnen kann, entsprechende Plätze unter der eidologi-
schen Gruppe suchen müssen.^ Das Gemeinsame der mathematischen Wissen-
schaften würde freilich auf diesem Wege in den Hintergrund treten.
Aber abgesehen davon läßt sich die Auflassung schon fiir die Geo-
metrie in keiner Weise festhalten. Sie untersucht den phänomenalen Raum
(ebensowenig wie den realen. Sonst müßte sie vor allem die Erschelnungs-
raume des Tastsinnes und des Gesichtssinnes gesondert untersuchen, dann
die Räumlichkeiten anderer Sinne, soweit auch da Analoges sich noch findet,
sie müßte das Verhrdtnis dieser Räume zueinander bestimmen , müßte die
Frage pmfen, ob die Erscheinungsräume nur zwei Dimensionen oder auch
Tiefe besitzen, eventuell ob die di'itte Dimension den beiden ersten ganz
trleichsteht, ob wir z. B. die Dicke eines Körpers anschaulich vorstellen
können , oder ob die darauf bezuglichen Ausdrücke nur etwas Unanschau-
liches , Begriffliches bedeuten usf. Dies alles sind Fragen der Raumphäno-
' Wenn man verlangt, daß alle Wissenschaft sich nur mit Realem beschäftige (vgl.
Abachnitt V), dann folgt in der Tat, daß die Geometrie der Physik als eine Vorstufe an-
gegliedert werden muß. Sie kann dann nicht als eine selbständige Wissenschaft gelten, da
ihr Gegenstand nidit real ist. Daß mnn sie auch nicht etwa xur Phänomenologie und mit
dieser zur Psychologie schlagen kann, werden die sogleich folgenden Betrachtungen zeigen.
Es ist aber überhaupt nicht selbstveratändlich , daß alle Wissenschaft von realen Gegen-
ständen handle.
^ Daß der Zahlbegriff mit der synthetischen Funktion zusammenhänge, scheint mir
HossBBL in seiner »Philosophie der Arithmetik* mit Recht zu liehaupten.
72 Stumpf:
menologie. Und zwar beziehen sie sich natüi'lich nicht auf individuelle
Raumerscheinungen , sondern auf Strukturgesetze der Erscheinungen. In
sich selbst bilden sie eine wohldefinierte , wenngleich nicht ohne Physiologie
und Funktionspsychologic durchzuföhrende , Untersuchungsgi-uppe. Nur
gerade die Geometrie gehen sie niclits an. llir sind sie prinzipiell so
fremd wie die Besclireibung der Klangfarben und die Klassifikation der
Gesclimäcke.
Der Erscheinmigsrauni besitzt demi auch tatsächlich nicht die Homo-
geneität, die der Geometer verlangt. Er ist ferner begrenzt, und zwar sehr
unregelmäßig begrenzt, beim Gesichts- wie beim Tastsinn; und dies ändei-t
sich nicht etwa, wenn man die Erscheinungen zweiter Ordnung, die Li-
halte anschaulicher Phantasievorstellungen, dazunimmt. Er erfüllt auch
nicht die Forderung »fi-eier Beweglichkeit« (genauer ausgedrückt: der Ver-
gleichbarkeit der Gebilde unabhängig von Lage und Richtung), insofern
z. B. ein auf eine Ecke gestelltes Quadrat als Ei'scheinung wesentlich mo-
difiziert ist.* Oben und Unten, Rechts und Links sind im Erscheinungsraum
absolute, unvertauschbai-e Unterschiede. Der Erscheinungsraum hat einen
absoluten Mittelpunkt. Usw.^
^ Wir mögen wohl auf Grund von Reflexionen die Erscheinung vor und nach der
Umstellung als gleich bezeichnen, nachdem wir nämlich auf indirektem Weg uns überzeugt
haben, daß der objektive Gegenstand derselbe geblieben, daß er nach wie vor rechtwinklig
ist. Aber die Erscheinungen in sich selbst sind sehr ungleichartig, und ebendaher ruhi*t auch
die ungleiche Art, wie das Urteil über den Gegenstand sich bildet. Was wir unmittelbar
als rechtwinklig beurteilen, existiert eigentlich nur dann in der Erscheinung, wenn die Winkel
durch senkrechte und horizontale Linien gebildet werden.
' Hierzu vgl. Mach, Erkenntnis und Irrtum S. 33if.: »Der physiologische Raum im
Gegensatz zum metrischen«. Ich würde jedoch nicht so weit gehen, zu sogen, daß der
physiologische (phänomenale) Raum überhaupt nicht metrisch , daß er etwas Qualitatives sei.
Er läßt in sich selbst doch gewisse, wenn auch nicht mathematisch exakte, <|uantitative
Streckenvergleichungen zu. Es scheint hier Machs frühere Ansicht nachzuwirken, wonach
der Erscheinungsraum nichts anderes wäre als eine Summe von Innervationsempfindungen.
Auch darin konnte ich Mach nicht beistimmen, daß er (S. 370) im begrifflich - metrischen
Räume keine Untei*schiede der Richtung mehr anerkennt und darum den Richtungsbegriff
für geometrische Definitionen als unbrauchbar erklärt. Rieh tungsunterscfaiede können ebenso
wie Großenunterschiede (bzw. -Verhältnisse) erhalten bleiben, auch wenn die absoluten
Richtungen und absoluten Größen des Erscheinungsraumes getilgt sind.
Man muß sich bei dieser Frage ferner davor hüten, die Unterschiede in den Maß-
verh<nissen eines objektiven Gegenstandes gegenüber den Maßverhältnissen seiner optischen
Erscheinung bereits als Beweis für einen Unterschied des geometrischen (und des aus diesem
gebildeten objektiven) Raumes vom Erscheinungsraum anzusehen. Die Verzerrungen der
Zur Evnteüung der Wissenschaflen. 73
4. Alle diese irdischen Mängel oder Vorzüge (Mangel vom geometri-
schen, Voraüge vom praktischen Standpunkte) sind im geometrischen Räume
U'J'tilgt. Er Ist in Anbetracht dessen überliaupt keine Anschauung, weder
im Sinn eines empirischen Anschammgsinhaltes noch einer apriorischen An-
•^chauungsform , sondern er ist ein aus dem empirischen Anschauungsinhalte
dun*li Definitionen gebildeter Gegenstand. Für ihn ist die Dimensionenzahl,
zwei, drei oder mehr, etwas Zufölliges. Für ihn gibt es kein Rechts und
Links, sondern nur etwa eine Plus- und Minusseite in bezug auf einen
Punkt einer Geraden, die miteinander vertauschbar sind und mit der I^ge
dieser Geraden selbst nichts zu tun haben. Wesentlich dagegen sind ihm
ifewisse Postulate, darunter in erster Linie die absolute Homogeneität aller
Teile und die Stetigkeit.
Hiermit entsteht nun freilich die Forderung befi-iedigender Erläuterungen
dieser Begriffe. Man kann dazu zwei Wege einschlagen: indem man ent-
winler durch Zergliederung der in den geometrischen Lehrsätzen enthaltenen
Begriffe, durch Reduktion auf möglichst wenige Grundbegi'iffe und durch
möglichste Verallgemeinenmg dieser Grundbegi'iffe die Kombination relativ
<'iufachster Merkmale feststellt , mit denen der Geometer t^t«fichlich arbeitet
(diesen analytisch-regressiven Weg pflegen die Mathematiker zu beschreiten),
«nler indem man von der Wurzel ausgeht, aus der sicherlich unsre geo-
metrische Begi-iffsbildung ihren Ausgang genommen hat, von dem Erschei-
nungsraum, imd nun die begrifflichen Operationen aufzeigt, wodurch hiei'-
aus der geometrische Raum bzw. die geometrischen Raumgebilde entstehen.'
optischen Ersclieiming g^enilber der wirklichen Gestalt des äußeren Gegenstandes bedeuten
nicht ohne weiteres eine inhomogene Beschaffenheit des Erscheinungsraumes in sich selbst
lo dem Falle des auf die Ecke gestellten Quadrates darf man daher auch nicht etwa
üts Gewicht darauf legen, daß das wirkliche Quadrat jetzt nicht mehr ohne weiteres als ein
Quadrat zu erkennen sei, während dies beim Quadrat mit horizontaler Basis der Fall sei.
Vielmehr muß der Beweis für die Verschiedenheit des phänomenalen vom geometrisch -physi-
kalischen Raum einzig darauf gestützt werden, daß überhaupt Linien, die das Gesichtsfeld
schrig durchschneiden, als Raumempfindungen niemals solchen, die es horizontal und vertikal
dorchachneiden, gleich sind, einerlei von welchen Objekten sie herrühren, von gleichen oder
von ungleichen.
' Auch Betrachtungen, wie sie Mach über die historische Entstehung geometrischer
SUze und Methoden anstellt (a. a. O. S. 347 f.), sind für diese Untersuchungsrichtung lehr-
reich , obwohl wir im Folgenden nicht die geschichtlichen Entwickelungen selbst, sondern
die psydiologischen und logischen Prozesse im Auge haben , die sich In jedem der Geometrie
Beflissenen aufs Neue abspielen.
FUfoff.-AtfAir. Abk. 1906. V. 10
74 Stumpf:
T)ns Fnielitliarste wixro dio Vorl)in(luiig l^eider We^e. Solange wir al)er
noch des gloichiuäßig und umfflsscnd geschulten Kopfes haiTen, der hierzu
im Stande wäre, wenden immer Diskrepanzen in Hinsicht der geometrischen
Prinzipien fragen bestehen hleiben.
Gehen wir den letzten, dem Psychologen näher liegenden Weg. so ist
soviel sicher, daß der geometrische Körper im Bewußtsein früher da ist
als Fläche. Linie, Punkt, und daß er aus der Vorstellung des physischen
Körpers entsteht, wie sie dur(*h das gemeine Leben bei allen normalen
Mensclien entwickelt wii-d. Der erste Schritt muß in der Abstreifung alles
Qualitativen durcli die Abstraktion liegen. Die Farbigkeits- und Hellig-
keitsmerkmale, eb(aiso die Berührungsqualität beim Tastsinne, sind in d(^r
anschaulichen Erscheimmg imzertrennlich mit den Kaumeigenschaften ver-
l)unden. Folgli(»h wird schon durch dieses Abschen die Vorstellung eine
unanschauliche, ein Abstraktum. Ein Allgemeinbegriflf ist dies Abstraktum
noch nicht eo ipso, doch ist damit auch die unmittelbare Gnmdlage der
Begriffsbildung gegeben. f]s wird ferner abgesehen von allen sonstigen
Verschiedenheiten empirischer Köii)er, der Dichtigkeit, den Aggregatzu-
ständen , dem Widerstand gegen Muskelarbeit und gegen Eindringen anderer
Köq^er usf. So bleibt nur die allgemeine Fonn der Ausdehnung übrig,
(ün abstraktes Schema, wie es Kant bei seinen Thesen über die »reine
Anschauimgsform des Raumes« im Siniu^ hatte: nur daß von einem Apriori,
solange wir nicht zu Urteilen ül^ergehen, in keiner Weise gesprochen
Averden kann. Die Teile dieses Ramnes sind nunmehr unter sich absolut
liomogen, d.h. wir entschließen uns e])en, von allen anderen Unterschieden
abzusehen als denen, die durch das Nebcneinanderliegen selbst gegeben
sind, den örtlichen.^
Daß diese Teile Stetigkeit besitzen und daß sie aneinandergrenzen,
also der Raum ein stetiges Ganzes bildet, ist, wie mir scheint, nicht eine
besonders hinzukommende Forderung oder Voraussetzung, sondern eine aus
^ Hiermit möchte ich nicht ausscliließen , daß es mehrere unabhängige Veränderungs-
weisen eines bestimmten räumlichen Gebildes geben kann, wie die Veränderung einer Ge-
raden nach Große und Richtung. Beide Vei änderungen fallen doch unter den gemeinschaft-
lichen Begriff von örtlichen Veränderungen , von Unterschieden des Nebeneinander. Immer-
liin ist es begreiflich, daß man vei-sucht, den Richtungsbegriff zu eliminieren und mit bloßen
Größenuntei'schieden auszukouunen. Die tiefste Wurzel des Streites um die nichteuklidische
Geometrie liegt in der Frage, ob eine solche Elimination des Richtungsbegriffes streng mög-
lich ist oder ob er nicht doch versteckt irgendwo wiedereingeführt wird.
Zur Einteilung der Wissenschaften, 75
iler Natur dieses bestimniteu abstrakten Vorstellungsiiilialtes schon fließende,
mit ilir unweigerlich gegebene Eigenschaft. Wir können sagen , die Stetig-
ki*it wei-de dui'ch <hMikende Yergegenwärtigung desselben unmittelbar ei*-
kannt. Dies neinien wir eine intuitive oder unmittelbar apriorisclie Er-
kenntnis. Ein Erfalirungswissen , das sich in allgemeinen Sätzen ausspirchen
Ueße, ergibt sieh niemals aus bloßer Vertiefimg in die Natur des Voi-^
Stellungsinhalts; es kann nur durch Schlüsse (Wahi'scheinlichkeitsschlilsse)
aus der Wiederholung bestinnnter Wahrnehnmngen abgeleitet werdeji. hi
unserem Falle dagegen spielt die Anzahl der Beobachtungen keine Rolle.
Hier beginnt also, mit dem Eintreten von Urteilen, die dem Räume ge-
wisse EigenscliJiften zuerkennen, zugleich das Apriorische, üb man es syn-
thetisch- oder analytisch -apriori nennen soll, kmni hier dahingestellt bleiben;
da aber die Eigenschaft als in der Natur des Voi"stellungsiuhaltes liegend
erkamit wird, wird es in dieser Hinsicht jedenialls analytisch heißen müssen.
Das gleiche wie fiir die Stetigkeit gilt aber auch iiii' die Unendlich-
keit des geometrischen Raumes, d. h. die P]igenschaft , daß die Anzahl der
i*inander so nebengeordnet zu denkenden Teile (deren jeder nicht als Punkt,
sondern als Körper von übrigens beliebiger Größe, imr unter allen ge-
nannten Abstraktionen, gedacht wird) keine endliche sein kann. Ti-otz
der RiEBiANNSchen Unterscheidung scheint mir dies, solange wir uns an
<Ue aus dem Erscheinungsraum in obiger Art al)geleitete Voi-stellung halten,
die noch im eigentlichen Sinne Ramn genannt wird, ebenso zu liegen,
wie etwa bei den Zahlen und den Tönen. ^ Daß iimerhalb des Raumes
iu sich zurückkehrende Gebilde möglich sind, tut der zwingenden Not-
wendigkeit keinen Eintrag, mit der wir den gedachten Raum selbst ins
Unendliche fortsetzbar denken müssen."
^ Über die Unendlichkeit der Tonreihe s. meine Tonpsychologie I, 178 f.
' Helhholtz gebraucht in einem seiner populär- wissenscliaftlichen Aufsätze, uui die
Denkbarkeit eines endlichen Raiunes zu erläutern, das Bild von W'ifsen, die auf einer Kugel-
obeiilache lebten und sich bewegten, aber keine Wahrnehmung von irgend (*t was außerhalb
dieser Obertläciie hätten. Dieses von Späteren vielfach wieiieiholte Bild verfehlt aber«
»cheint mir, seinen Zweck. Denn es folgt nichts daraus über die Beschaffenheit der räum-
lichen Vorstellungen, die solche Wesen haben wuitlen. Sic konnten gleichwohl die Dinge
auf der KugeloberfUlche dreidimensional sehen, und sie könnten euklidisch - gerade Linien
M'hen. Der Baum, in dem ein Organismus lebt, und der Raum, den er vorstellt, brauchen
nicht ziisaimnenzufallen. Sonst wäre ja auch die Meinung nicht möglich, die heute von so
vielen geteilt wird, daß unserer eigener Anschauungsraum tatsächlich nur zweidimenMoiial
«ei, während wir in einem dreidimensionalen Räume leben. Das Gleichuis ist übrigens für
76 Stumpf:
Man schreitet nun durch Fordeiiingen oder, was dasselbe ist, durch
Voraussetzungen oder Definitionen weiter. Unter diesen hinzukommenden
Forderungen braucht wold kaum die absolut stai-rer Begrenzungen aufge-
fiilirt zu werden. Denn da den Raumgebilden ihre Begrenzungen dm-ch
die Definitionen vorgeschrieben sind, so liegt darin schon die Unabhängig-
keit von jeder Verschiebung im Räume , solange nur die Definition nicht
verschoben wii*d. Was die Verschiebungen, Um- und Auf einanderlagei-ungen
zu Zwecken der Beweisführung aidangt , so werden diese von der neueren
Geometrie olmedies inuner mehr als ein mmötiges Hilfsmittel der Beweis-
fuliiiing ausgescliieden. Freie Beweglichkeit dürfte dalier, wie Beweglich-
keit überhaupt, nicht zu den Erfordernissen des geometrischen Gebildes
gehören. Was damit gemeint ist, reduziert sich auf die Vergleichbarkeit
der Gebilde miabhängig von Lage und Richtung, einen Begriff, der mit
dem der Bewegung im physikalischen Sinne nichts gemein hat.
Die wichtigste Maxime ffir Definitionen , durch welche die Geometrie
überhaupt erst möglich wird, ist die der Vereinfachung der Begrenzungen.
So entsteht der Begriff' des zwei- und eindimensionalen Gebildes, der Geraden,
der J]bene usf. Nur durch solche Vereinfachungen oder Idealisieiomgen
wird es möglich, zu gesetzlichen Beziehungen zu gelangen. Die Verein-
fachungen werden zunächst aufs Äußerste getrieben, später, nachdem die
Gesetze der schlechthin einfachsten Gebilde gefunden sind , allmäldich stück-
weise wieder aufgehoben.
Hiernach läßt sich der Gegenstand der Geometrie so bestimmen: es
ist nicht der reale, auch nicht der phänomenale Raum, sondern es sind die
durch Abstraktionen und Definitionen aus dem Erscheinungs-
raume gewonnenen, begrifflich gedachten, homogenen Raumge-
Heluholtk* Gedankengang entbehrlich. Es handelt sich ihm an dieser Stelle nur darum,
daß für die kürzesten Linien auf der Kugeloberiläche andere Gesetze gelten wie fQr die
kürzesten Linien in der Ebene, und daß man auf größten Ki*eisen der Kugeloberfläche un-
begrenzt, aber nicht ins Unendliche fortschi eiten kann. Um dies einzusehen, braucht mau
sich nicht in die KugeloberflSche selbst vei-setzt zu denken.
Das Gleichnis wirkte aber insofern nachteilig, als es bei manchen der unklaren Idee
Vorschub leistete, als könnten wir am Ende solche Wesen sein, die, während sie von einer
Geraden sprechen, Stücke eines gi*ößten Ki*eises meinen, und während sie sich eine ins
Unendliche verlaufende Gerade denken, nur eine in sich zurücklaufende Linie zuwege bringen.
Dies ist natürlich unsinnig. Es kann vorkommen, daß einer, der gerade zu gehen glaubt,
krumm geht; aber nicht, daß ein mathematisches Gebilde etwas anderes wäre, als das, was
es ex definitione sein soll.
n
Zur Emteilung der Wissensdurfien, 77
bilde. Es sind Begriffsinhalte beteiligt, niclit bloß, wenn von De.s<aktes'
Tausendeck , sondern aucli schon , weiui vom Kreis und vom rechten Winkel
(li(* Rede ist. Daß diese Begriffe zuletzt aus konkreten «\jiscliauungen
stammen, ist ihnen mit allen andern gemein.
Ich möchte Gewicht darauflegen, daß nicht eigentlich der geometrL«<che
Raiun selbst, sondern die innerhalb desselben möglichen Raumgebilde der
Gegenstand sind. Alles, was die Geometrie aussagt, und alle Konstruktionen,
die sie vornimmt, betreffen immer Raumgebilde, nie den Raum selbst, der
irewissennaßen niu: die Möglichkeit solcher Gebilde ist.
Die Raumgebilde des Greometers sind physisch, wenn man so die Ge-
genstände neimen will, die aus Erscheinungsmaterial im Denken gebildet
sind. Aber sie sind nicht physische Gegenstände in dem vorher definierten '
^>inne, nicht Gegenstände der Physik. Man kann nur sagen, sie seien deren j
unmittelbare Vorfahren. Der roh -empirische Körper geht durch den geo-
metrischen in den physischen (physikalischen) über. Wenn man die Gegen-
stände der mathematischen Physik als Gespenster bezeichnet hat, so haben
sie diese Natur von ihren geometrischen Eltern. Die Physik bereicheit sie i
durch Merkmale wie Undurchdringlichkeit, Trägheit. Nimmt sie bloße
Punkte als Kraftzentren, so bleibt doch für die Darstellung der wechselnden
raiunlichen Beziehungen Geometrie die Grundlage. Im Tibrigen folgt der 1
Physiker dem Beispiele des Geometers darin , daß er die an den Erschei-
nungen zu prOfenden Gesetzliclikeiten zunächst an möglichst vereinfachten
•Gebilden, absolut elastischen oder unelastischen, absolut nicht leitenden,
absolut schwarzen Körpern u. dgl. entwickelt. Dadurch allein werden sie
eben mathematischer Beliandlung zugänglich.
5. Aus der Erkenntnis, daß es sieh bei dc^n (tegenstilnden drr (h'o-
metrie nicht um Anschauungen im phänonienah'U Sinne, sondern inn be-
(niffliche Umformungen handelt. Hießt die interessnnte VrnillgeuH inerung,
die den Gesetzen der GeiiniHrie neiiordinKs gegeben ist. Sie Ing von jelier
in der Konsequenz ihres Gej^enstandes. Denn wenn nnin ihn mi \ers(«»ht.
erscheint die phänomenale Raumvorstelhing, sei es des (Jesiehls- oder des
Tastsinnes, nur als ein zweckmäßiger, saehlieh aber /nnUliuer Ans^nnu**-
pimkt. Die abstrakten Bezieh uii^r-n, «nf die es allein nnktMunil. messen
sich fil)erall herauwelhMi, wo ^h-i^-he Fordennii^en /in lii^endein Mnleriiil
gestellt mid von ilim in fzhWhi^v Weise ermill werden, niil muhvw Worten:
wo irgendein steti^.s (;anzes xon homogenen Teilen >oilie«i. Illerl^ei nniÜ
I
78 Stumpf:
(las Merkmal der Stetigkeit besonders erwähnt werden, weil nicht selbst-
verständlich ist, daß alles Homogene diese Kigenschaft besitzt, obgleich
sie beim Raum aus der Natur dieser besonderen Vorstellung fließt. Ich
möclite dahingestellt lassen, ob auch die Unendlichkeit besonders erwähnt
werden muß oder ob diese nicht doch mit der Homogeneität schon unab-
trennbar gegeben ist.
Seit RiEMANN pflegt man in diesem Sinne von »Mannigfaltigkeiten«
zu sprechen und den Raum nur als eine besondere Art der Mannigfaltig-
keiten zu bezeichnen.' Wir können also nun auch allgemeiner sagen: Geo-
metrie sei die Wissenschaft von den Stinikturgesetzen der in irgendeiner
stetigen homogenen Mannigfaltigkeit möglichen Cxebilde. Dabei kann homogen
im allgemeinsten Sinne das heißen, dessen Teile sämtlich durch eine einzige
Veränderungsweise inemander übergehen (bzw. nur eine einzige Art von
Unterschieden aufweisen).
So gefaßt ist die Geometrie der Maimigfaltigkeiten außer dem Raimie
nicht etwa eine Übertragung geometrischer Gesetze auf ein an sich ihnen
fremdes Materiell, eine Übertragung, die nur zufallig sich auch dort be-
währte oder jeweils besonderer Prüfung l)edürfte, sondern sie ist von vorn-
herein ein mid dieselbe Wissenscliaft , weil sie ein und denselben abstrakten
Gegenstand besitzt.
Es scheint mir nun aber sehr fraglich , ob in Wirklichkeit außer dem
Raum irgendein Gegenstand von mehr als einer Dimension namhaft ge-
macht werden kann, der streng unter obigen Begriff fiele. Nui- fiir ein-*
dimensionale Mannigfaltigkeiten wird man leicht namentlich in physikali-
schen Begriffen Beispiele finden; liii* zweidimensionale allenfalls im Zahlen-
gebiete, wenn man die komplexen Zahlen als zweite Dimension bezeichnen
will. Die mehrfachen Dimensionen, von denen die Physik seit Fourier
spricht, sind dagegen gerade durch ihre Nichthomogeneität charakterisiert
(Weglänge, Zeit, Masse). Desgleichen die Dimensionen der Empfindungs-
inhalte : Qualität , Intensität usw. , in denen man iimerhalb des reinen Er-
scheiimngsgebietes Analogien zu den Raumdimensionen suchte. !Neuer-
dings unterschied man auch noch innerhalb einer dieser Erscheinungseigen-
* Der Ausdruck war insofern nicht ganz, glücklich gewählt, als ja von aller Mannig-
faltigkeit im gewöhnlichen Wortsinne hier gerade abgesehen werden soll; indessen hat man
sich gewöhnt, ihn in der Mathematik fiir eine Vielheit von Elementen zu gebrauchen, die
einem gemeinschaftlichen Begriff untergeoixinet sind und unter sich Reihen bilden.
Zur EnUeäung der Wissenschaften. 79
M'liaften. bei den Qualitäten der Farben, mehrere Dimensionen (wej^en iler
vrrselüedenen Hauptfarbenj)aare) und sprach hiemacli von einem Farben-
korper: aber man stößt dabei auf Schwierigkeiten , die zeigen, <laß es sich
hier doch nur um eine Übertragung handelt, bei der man nicht im vor-
aus weiß, wie weit man damit kommt. Bei den Tonqualitäten bietet der
trenullinige Fortgang von der Tiefe zur Hohe ein schön<*s Bc-ispiel einer
nur eindimensionaU'n Mannigfaltigkeit. Aber selbst hier ist es fraglich . ob
die Distanzen auf dieser (reraden, wenn sie auch bezüglich ihrer Größi*
vi-rsrlcichbar sind, durchweg wie raumliche Strecken behandelt werden
können. Die Tondistanz wird uns in der Erscheinung gej^<*l>en durch die
1)loßen Endpunkte <sei es simultan o<ler sukzessive), sie kann allenfalls auch
ilin'r ganzen Ausdehnung nach durchlaufen wenlen: die Raumstreckf* aber
ist gegeben durch die sinudtan^' Gegenwart der sämtlichen auf ihr unti-r-
srheidbaren Punkte. Daraus ergeben sieh Meitere rnter.schied«*. infolge'*
deren ilie sogenannte Linie der Tonqualitäten doch wahrHcheinlii-h nie-
mals auch nur zu einer Linieng**i>m<*trie geführt hätt**. Wir wnUen nicht
auch auf die ZiMtlinie einir*"hfn. di#' nof'li be**^mil#*rtf' Sehwierigkeit^Mi «»in-
schließt.'
Aus di«*M*n Bi*tnu-htunir«*n scheint mir \u*r\or/Mi^f*hou. daß die v^-r-
?dlirem«'iiierti* Fa^sunir des (j<'ir<-nstand«*s di-r (»eouK'trie zwar fliron^tiscli
rirlitiir untl h'hm-i«*Ii ist. ihn* Anwenduni4: ab^T in WahrlM'it uwhr auf bloO<*
riM'rtntiTuiii^'en aN auf wirklirlif- Siib^nmtion«'n unt<*r d«*n if<*UH'inM'liaftlirh<*n
B<*jrriff hinausläuft. Der Nutz*-n di-r v*-raIlir<'nH*inert<*n Fa«»sini(^ Ii<*i^t nirht
so sehr bi der Anw#ndbark«MT ?nif 7ji]t\rf'U'ht' unrauinliche io^umsinwU' als
in der schärtVren Krk«-niiTnis fh-r b<*tfrifriicln*n Natur d#*r t^^'onM'triscIii'n
RaiungebiM*^ sell.^t.
6. In dt-r hi^»:iT»"irnli<-lik*-it d'-s ^4} iH-^tjuinit^'U G#'t^i*fi«»taiid*'s, tuid znar
in df«m erst*-n und iiii«-jrb# Iirli/'list#ii M^-rkniMl d'-r abHolut^-n Ilouiotf«'n<it;it.
s*t war ihm d> Zeit d>'j-^\ d'^h 4 .rh om rir, Bj>J drM#-fi. worauf m ilun unkttn, ituUi
der eigrotl *..;.*? ij^-z^r.^'.xj. i •*-.•,-•, Ili/^w-n h;.'J»-t^n di«* \ri'irdnijfi{<'iv#*rli;ilfffi««^ in #'ifi«'>n
^tKigpn, ein ii-.f'&*:' r.* "f . ■,•••- •* -• i ,rA*'fif/r'.y } vor*Ml% und rurky^.ttim, •l>*'r iikIjI »^»t-
die Pnnkte rh -r L.r.> r*-: -i #•-•#- ..•.: .;*..* d^ffi;* \,tft\,*'t all*-* f^iu^t<t«tiv«* ft'ti.u'UiUfh Jind
titrdte F* !;:*► f*a'-.:#< »^-:-. w .-. ,» »r, .;** jj.M f\rr Z*-ii fi'it/;i'(i /•! tli*» i/lic U^t ih»»!»
«:ai|*> »ucep**>»"^» •**• *^:>r r -r.*-, .^-d by rf-oii.i^Jif mg tUt-tt» v^itti inon»*«».!» of UfM*»-. -, $
d« Vorrede der •Lri.'-^rr* ol '/ .at^rr.*'..' •• t^ifij.
80 Stumpf:
muß nun auch die durchgängig apriorischo Methode wurzeln, die Mög-
lichkeit also, aus einmal definierten Begriffen fort und fort neue Lehrsatze
abzuleiten, ohne daß an irgendeinem Piuikte Beweisgioinde oder verifizie-
rende Tatsachen aus der Wahrnehmung zu Hilfe genommen werden müßten.*
In seiner vorkritischen Schrift »Untersuchimg über die Deutlichkeit
der (Innidsatze der natürlichen Theologie» und Moral« leitete Kant die Ge-
wißheit der mathematischen P>kenntnis gegenüber der philosoiihischen daraus
her, daß ihre Gegenstände nicht gegeben sind . sondern erst durch Defi-
nitionen entstehen. Er hat später sel})st erkannt, daß liierin doch nicht
die letzte Wurzel des Unterschiedes liegen könne. In der Tat sind ja viele
Gegenstände durch willkürliche Definitionen herstellbar (selbst logisch wider-
sprechende), oluK* daß immer eine apriorisclie Wissenschafl davon möglich
wäre. Es konnnt darauf an, welche (irundeigenschaften den willkürlich
zu l)ildenden Gegenständen beigelegt werden. Kants spätere Lehre von
Raum und Zeit als apriorischen Anscliauungsformen war wesentlich darauf
eingericlitet , diese Lücke zu fiillen. Aber hierin ist er von einer frucht-
baren Auffassung des Wesens der Mathematik noch weiter abgewichen. Der
eingehenden Kritik ('outurats* kann ich in allen wesentlichen Punkten nur
zustinunen. In der Frage nach d<Mi geometrisclien Axiomen sind wir durch
diese Lehre nicht einen Schritt weiter gefiihrt. Dagegen enthält Kants friihere
Fassung, die ja auch in der späteren nachwirkt, sicherlich ein richtiges
Moment: homogene Gegenstände sind eben nirgends gegeben, sie können
nur durch Definitionen frei gescliaffen werden. Aber freilich nicht darin, daß
irgend etwas definitorisch geschaffen wird, sondern darin, daß der Gegen-
stand der Geometrie als absolut homogener geschaffen wird: darin liegt
der fruchtbare» Kern , aus dem der ganze Baimi erwächst. Von apriorischen
Fonnen in Kants Sinn ist dabei nichts erforderlich; wir brauchen als Aus-
gangspunkt der Begriffsbildung niu* die konkreten Sinnesempfindungen , di(^
der heutigen Psychologie gemäß ihre räumlich(» Ausdehnung und Anordnung
' Wir unterscheiden >apriorisch« und «deduktiv«. Deduktiv ist alles, was aus allge-
meinen Prämissen gefolgert wird. Dabei können die Prämissen aber selbst der Erfahrung
entstammen, wie bei den Deduktionen der mathematisclien Physik. Apriorisch dagegen nennen
wir Erkenntnisse, die in keiner Weise auf F>rahrungssätzen ruhen.
* L. CoüTURAT, La Philosophie des Mathdmatiques de Kant. Revue de Metaphysique
et de Morale XII (1904), 8. 321 f. Couturat bemerkt auch gelegentlich mit Recht, daß
Kant sich keineswegs von dem falschen Psychologisinus freigehalten hat, den die Neokriti-
zisten als sclilimmsten Fehler anzusehen pflegen (8. 342 f., 355).
I
•1
Zur Einteilung der Wissenschaften. 81
canz ebenso wie ihre Qualität inhaltlich mitbringen. Die BegrifEsbildung
selbst aber erfolgt durch fortschreitende Abstraktion -und Generalisation
wie überall.
Daß diese Herleitung der geometrischen Grundbegriffe aus der An-
<>cliauung mit einer Herleitung der geometrischen Sätze aus der Anschauung
nicht das geringste zu tun hat, muß auch heute noch manchem in Er-
iimeruiig gebracht werden. Eine der verhängnisvollsten Vei-wechselungen,
von der die Erkenntnistheorie sich erst allmählich befreit, ist die der Fragen
nacK dem Ursprung der Begriffe und nach der Herleitung von Erkenntnissen.
Zwei Begriffe könnten nicht bloß im KANXSchen Sinn a priori , sondern sogar
in der krassesten Wortbedeutmig angeboren sein, und es könnten docli die
daraus zu bildenden Urteile, die eine Zusammengehörigkeit dieser Begriffe
behaupten , nur induktiv durch Schlüsse aus vielen Einzelwahmehmungen
als wahr erkannt werden. Und umgekehrt können Begriffe aus Wahrneh-
mungen gewonnen, und es können die darauf bezüglichen Urteile gleich-
wohl a priori d. h. durch bloße Zergliederung und aufinerksame Vergegen-
wärtigung der Begriffsinhalte, erkannt werden.' Dies ist tatsächlich in der
(reometrie der Fall. In jeder strengen Darstellung dieser Disziplin wird
iregenwärtig darauf Gewicht gelegt, daß die Beweisführungen als solche
in keiner Weise auf die Anschauimg begründet werden. Jeder Beweis muß
vielmehr als imgültig betrachtet werden, der sich niu* auf das Zeugnis der
Anschauung beriefe; weshalb denn auch jene alten Operationen des Um-
legens usf. immer mehr diu^ch rein begriffliche Formeln ersetzt werden.*
Unentbehrlich ist die Raiunanschauung nur zur Begriffsbildung. Hier
allerdings halte ich es nicht för möglich, daß jemand, dem die sinnlich-
konkrete Raumvorstellung (sei es des Gesichts- oder eines anderen Sinnes)
^^änzlich fehlte , beispielsweise die so fein ziselierten Definitionen D. Ho^berts
verstände. Die »Mannigfaltigkeiten«, die außer dem Raum als konkrete
Unterlagen solcher Definitionen etwa zur Verfugung stehen, würden nach
' Das letztere betont auch Kant in den Prolegomena §2,6).
' Die vollständigste Verkennung der Geometrie in Hinsicht ihres Verhältnisses zur
Anschauung findet sich bei Scropenbaukr. Wie anders spricht bereits Dcscartks: >Toute
cette science que Ton pourrait peut-^tre croire la plus soumise a notre Imagination, parce
(iu>lle De consid^re que les grandeurs, les figures et les mouvements, n'est nullement fondee
«ur ses fantt^mes, mais seulement sur les notions claires et distinctes de notre esprit; ce (pie
''aveot assez ceux qui Tont tant soit peu approfondie* (An Mersenne. (Euvres ed. Cousin
Vlll, 529).
nUo$.'ki$§or. Mh. 1906. F. 11
82 Stumpf:
dem vorhin Bemerkten diesen Dienst kaum genügend leisten können. Auch
beim Operieren mit den einmal definierten Begriffen wird die Beihilfe der
Anschauung immer wieder erforderlich sein, nicht um etwas daraus abzu-
leiten , sondern um die Begriffe sozusagen am Leben zu erhalten. Die Be-
deutung der Anschauung fiir das geometrische Denken ist dabei wieder
keine andere wie die aller konkret -sinnlichen Vorstellungen fiir das Denken
der aus ihnen mehr oder weniger künstlich gebildeten Begriffe. Genügend
geklärt ist sie freilich weder im speziellen noch im allgemeinen Falle.^
Inwiefern und wodurch nun die durch Definition gesetzte absolute
Homogeneität des Gegenstandes die apriorischen Ableitungen der Geometrie
ermöglicht: auch dies bedürfte wohl noch sehr der genaueren Untersuchung.
Es liegt in der genannten Eigenschaft begründet, erstlich daß niemals
irgendein Exemplar einer geometrisch definierten Spezies gegeben sein kann,
das uns zwänge, den Begriff aufzugeben oder umzuformen. Wir können
uns aus vielen Gründen veranlaßt sehen zur Umbildung, Erweiterung,
Verengerung geometrischer Begiiffe. Aber niemals kann die Beobachtung
eines neuen individuellen Exemplars uns dazu nötigen, wie solches in der
Naturfbrschung, zumal der organischen, sooft der Fall ist. Deim der geo-
metrische Begriff ist unser Geschöpf, und in jeder Definition ist zugleich
die allgemeinste Voraussetzung eingeschlossen, daß das Gebilde bis in die
kleinsten Teile hinein homogen sein soll, daß also nicht etwa ein bisher
übersehener Teil an einem neuen Exemplar oder bei erneuter, aufinerk-
samerer Beobachtung uns eine Überraschung bereiten kann. Es liegt zweitens
in jener Eigenschaft begründet, daß jeder Teil des Raumes ffir jeden
anderen eintreten kann, daß es gleichgültig ist, ob wir uns den Kreis hier
oder dort, nah oder fern von unserem zufalligen Standpunkt denken, gleich-
gültig auch, ob wir ihn klein oder beliebig groß denken.
Aber diese Bemerkungen liegen an der Oberfläche. Eine logisch be-
friedigende Methodologie der Geometrie ist noch nicht geschrieben. Sie
hätte nicht bloß zu zeigen, wie die rein aus Begriffen fließenden not-
wendigen und allgemeinen Erkenntnisse, sondern insbesondere, wie die
unendliche Fülle dieser Erkenntnisse in der Natur des Gegenstandes wurzelt,
wie das absolut Homogene durch die Unerschöpflichkeit der darin mit-
* Was F. Klein in seinen V^orlesiingen Qber nichteuklidische (ieometrie( 1893)8. 354 f.
ubei" die Rolle der Anschauung für das geometrische Denken sagt, scheint mir auch vom
]3liilosophischen Standpunkte ganz zutreffend.
Zur Emttihmg der Wissensehaftm. 83
jj:esetzten Beziehungen der Teile den großen Zusamineuhang von Erkennt-
nissen ermögliclit, den wir erst als Wissensehaft bezeichnen. Unsere Be-
merkungen sollten nur andeuten, wie wir uns etwa die Ableitung für die
Sonderstellung der apriorischen Wissenschaften aus der Besonderheit ilirer
(tegenstande vorstellen.
Auf die matliematischen Disziplinen außer der tteometrie soll hier
nicht eingegangen werden. Es dürile sich zeigen lassen • daß ihre Gegen-
stande gleiclifalls durch das Grunduierkmal der Honiogeneitat ausgezeichnet
sind, wenn das Wort in seinem allgemeinsten Sinne verstanden winl.
Dieses Merkmal wird auch Urnen durch die Definitionen zuerkamit, durch
ilie sie überhaupt entstehen. Das Merkmal der Stetigkeit kommt ilmen
nicht allgemein zu. Wie aber die Gegenstände der Zaldenlehre mid der
Analysis ihrem spezifischen Wesen nach im Unterschiede von den Gegen-
ständen der Geometrie am genauesten definiert werden, ist eine Frage,
die wir den 3Iathematikem oder mathematisch geschulteren Philosophen
überlassen müssen.
ym Seiendes und Seinsollendes. Theoretiselie und praktische
Wissensehaften.
Auch hier liegt ein gegenstandlicher Unterscliied vor, wenn man den
Begriff Gegenstand so weit faßt, wie wir es verlangen. Unter Seiendem
verstehen wir hier nicht bloß Reales, sondern jeilen (Gegenstand eines
waliren Urteils. Seinsollend nennen Mir Werte, insoweit sie einem Wollen
als Ziel gesetzt werden können, mit anderen Worten: insoweit sie noch
nicht verwirklicht, sondern der Verwirklichung i'&hig sind. Daß sie der
Verwirklichung würdig sind, lieut im Begriffe des Wertes selbst. Das
Unterscheidende aber gegenüber anderen Werten ist eben die Fähigkeit,
noch verwirklicht zu werden (hpaktön ÄrAeÖN). Von Werten im allgemeinen
nun handelt ein Abschnitt der Eidulogie. Werte, soweit sie bereits ver-
wirklicht sind, lehrt die 3Ienschengeschichte kennen, wenn sie auch nicht
durch dieses Merkmal definiert wenlen kann. Die praktischen Dis/ipliiien
dagegen lehren gerade die Verwirklichung von Werten. Sie sind An-
weisungen; Anweisungen allerdings nicht bloß im nüchternen Sinne des
gewöhidichen Sprachg(4>raucli(\s , sondern auch im Sinne von Fkiitks »An-
weisung zum seligen Leben«.
ir
84 Stumpf:
Aristoteles, der den Unterschied zuerst aufstellte, fiigte noch die
poietischen Wissenschaften hinzu, die er gegen die praktischen dadurch
abgrenzte, daß die zu erreichenden Ziele (Werte) bei diesen in den Akten
des WoUens und Handelns selbst, bei jenen aber in den äußeren Werken
liegen. Später hat man beide Gi-uppen unter dem Namen praktische Dis-
ziplinen zusammengezogen und nur unter diesen selbst solclie unterschieden,
die auf ein äußeres Ziel, wie die Herstellung von Bauwerken oder Ma-
schinen, und die auf ein inneres Ziel, wie die Bildung des Charakters oder
des Geschmackes oder des logischen Denkens, gerichtet sind.
Der Unterschied praktischer gegenüber theoretischen Wissenschaften
ist prinzipiell em höchst wesentlicher und durchgreifender. Denn die ganze
Behandlung, die Auswahl und Anordnung des Stoffes gestaltet sich ver-
schieden. Die theoretische Wissenschaft verlangt in viel strengerem Sinn
Einheitlichkeit. Ihre Untersuchungen und Lehrsätze sind durch das Baiid
gleichartiger Vorstellungen und Begriffe zusammengehalten; die der Geo-
metrie z. B. durch die wenigen an der Spitze stehenden Begriffe, die der
Physik durch die physikalischen Gnmdbegriffe, wenn sie sich auch im
Laufe der Zeit unter dem Zwange neuer Tatsachen veitodern.
Auch die Methoden der Untersuchmig und des Beweises sowie das
dazu herangezogene Material sind in allen Teilen einer theoretischen Wissen-
schaft wesentlich gleichartig. Anders bei einer praktischen. Die Baukunde
macht Anleihen bei der Mechanik, Mineralogie, Geologie, Chemie, Kunst-
geschichte, wo immer sie fiii' den Architekten Nützliches findet.
Ursprunglich sind wohl alle theoretischen Bestrebimgen aus praktischen
hervorgegangen. Später aber kehrt sich das Verhältnis um : in ihren höheren
Formen setzt alle Praxis Theorie voraus. Wegen dieses Abhängigkeitsver-
hältnisses pflegt man vielfach praktische Disziplinen denjenigen theoreti-
schen als »angewandte« zuzuordnen, aus denen sie ihre Grundlagen haupt-
sächlich entnehmen: Geodäsie der Geometrie, Phannazeutik der Chemie,
Maschinenlehre der Physik, Pädagogik der Psychologie, Therapie der
Pathologie.
Viele praktische Disziplinen haben a})er ihr selbständiges Hauswesen
gegründet, indem sie selbst in die erforderlichen theoretischen Unter-
suchungen in solchem Maße eingetreten sind, daß sie den Mutterwissen-
schaften wieder neue Anstöße zu geben vermochten. Die Elektrotechnik
ist ein glänzendes Beispiel.
Zur Einteilung der Wissenschaften. 85
Die Zahl der praktischen Wissenschaften ist Legion, unbegrenzt wachsend
wie die Wege und Ziele menschliclier Kultur. Was in den vier oder fünf
Universitätsfakultäten , deren jede theoretisclie wie pniktische Fächer um-
schließt, was in den technischen, landwirtschaftlichen, Handels-Hochschiüen,
Bergakademien, Kriegsakademien, Kimst- und Kimstgewerbeschulen usf.
an praktischen Fächern vorliegt, entzieht sich der Klassifikation. Man
kann nur sagen, daß die Vielheit auch hier unter versclüedenen Gesichts-
punkten verschiedene Zusammenfassungen gestattet. Dagegen kOmite man
nach oben hin wold von einer allgemeinsten praktischen Wissenscliaft
reden, wie sie Plato und Aristoteles in der Politik im Auge hatten
(kypiwtAth KAI mAaicta XpxithktonikA) mid wie sie Neuem unter dem Titel
der »sozialen Ethik • vorschwebt. Sie wäre das praktische Seitenstück
der Metaphysik, wie sie deim auch gleich dieser ihr Haupt noch stark
in Wolken verbirgt.
Man hat gelegentlich den Begriff eüier praktischen Disziplin, abwei-
chend von der hier zugrunde gelegten Auffassung, m der Weise zugespitzt:
sie habe nur zu lehren , wie etwas gemacht wii-d und am besten gemacht
wird, sie liabe aber in keiner Weise Werturteile abzugeben. P&dagogik
habe nichts mit Ethik zu schaffen, Baukunde, Kompositionslehi*e, Poetik
niclits mit Ästhetik. Der Pädagoge müsse nur wissen, worin die indi-
viduellen Anlagen bestehen, wie jede entwickelt oder miterdrückt werden
kann, der Architekt nur, wie Wohnhäuser und Kirchen ii*gendeinem Stil
gemäß gebaut werden. Daß der Zögling gut, die Kirche schön ausfallt,
werde zwar von ihnen gleichfalls verlangt, gehöre aber nicht in ilire
Wissenschaft, weil sich über Schönheit und Güte überhaupt nichts leliren
lasse. In der Politik hat schon Aristoteles in dem Kapitel über den
Tyramien ein unvergleichliches Musterbeispiel einer vom Wert mid Unwert
der Ziele absehenden Kunstlehre gegeben.
Emsthsift eine ganze Wissenschaft in dieser Weise durchzufuhren , ist
aber noch niemand eingefallen. Für Aristoteles ist Politik doch zuletzt
nur Ethik in großem Stil; und sen)st in dem genannten Abschnitt kann
er sich nicht enthalten, ganz nebenbei in zwei Worten einfließen zu lassen,
daß alle seine Anweisungen für den Tynmnen »v(m Schlechtigkeit durch-
drungen« seien. ilAciiiAVELLi macht ganz bestimmte etlüsche Voraus-
setzungen, indem er eben die 3Iacht des Fürsten als unbedingt wert\(>ll
betrachtet. Der Architekt, der ein stilvoll romanisches Haus auf geschmack-
86 Stumpf:
lose Weise in die Umgebung hineinsetzt, erfüllt seine Aufgabe schlecht.
Und welcher Pädagoge wüi'de mit Passion der zweckmäßigsten Heran-
bildung von Schurken nachsinnen. Zweckmäßig im allgemeinen Sinne heißt
zwar nur das, was geeignet ist, zu irgendwelchen beliebigen Willenszielen
hinzufuhren. Aber zweckmäßig in dem Sinne, wie es die praktischen
Wissenschaften verstehen, involviert stets den Begriff eines wertvollen
zum Unterschied von einem wertlosen oder unwürdigen Ziele. ^
Es ist wohl richtig, daß über den Wert der Ziele, zu deren Vei-wirk-
lichimg eine Kunstlehre anleitet, innerhalb dieser selbst meistenteils nicht
viele Worte gemacht werden. Man setzt eben bei dem Adepten einer sol-
chen Wissenschaft von vornherein die Überzeugung voraus, daß es sich um
Menschenwürdiges handele, und daß er im Einzelfalle hinreichend Ge-
schmack oder sittliches Gefiihl besitzen werde , um die erworbenen Kemit-
nisse in der fraglichen Richtmig zweckgemäß anzuwenden. Aber aus dem
Begriffe praktischer Wissenschaften , wie sie nun einmal tatsächlich auf-
gefaßt und betrieben werden, läßt sich dieses Element so lange nicht ent-
fernen, als der Najne Wissenschaft selbst eines der unbestrittensten Güter
der Menschheit bezeichnet.
IK. Rückblick. Allgemeinste Gegenstände. Philosophie.
In den vorstehenden Unterscheidungen dürfte das Wesentlichste be-
schlossen sein , was die gegenwärtigen Wissenschaften bezüglich ilirer Ge-
genstände und, im Zusammenhange damit, ihrer Interessenrichtung mid
ihrer Methoden voneinander scheidet. Die Einteilimgen kreuzen sich in
vielfacher Weise. Es gibt theoretische wie praktische, Tatsachen- wie Ge-
setzeswissenschaften sowohl unter den Natur- wie unter den Geisteswissen-
schaften usw. Infolgedessen erhalten wir nicht eine gleichsam genealogische
Tabelle so einheitlicher Art, wie sie die weitverzweigten Wissenschafts-
* Wenn Dilthky (Sit/.iingsber. d. Akad. 1888, Nr. 35) die Pädagogik von der Ethik
unabhängig 7.11 machen wünscht, so hat er dabei unter der VAhik eine von allen historischen
Elementen abstrahierende Ethik im Auge, die ja auch ihre eigene Aufgabe nicht vollkommen
erfüllen würde. Aber jenen teleologischen Zusammenliang des Seelenlebens, »welcher Er-
haltung, Glück und Entwicklung der Individuen, Erhaltung und Steigerung der Art und
Gattung herbeifuhrt«, legt auch er der Pädagogik zugrunde.
Zur Emieihmff der W iss rn s ^eflfn^ 87
stammbiume bei Aifpira:'. Wi^ndt* oder MfxsTERBOtG* ibirbicten. Auf
ein so einheitlich durchiyefiihrtes Wi^v^^enscliÄftssystem muß man. ^ie mir
scheint, verrichten, wenn man eine natürliche l>nUiunir anstrebt: analo^r
wie Pflanzen und Tiere in natürlichen Systemen nicht nach einem ein-
rigen (inuulmerkmaK nur durch dessen immer sjH^zicllere Differcnzienini^tMi.
in OnbiunjBren . Gattun^n und Arten 4rt^schie<len wenlcn. Das 1 harakti^
rLstische einer Wissenschaft kann nach dem einen Prinzip verschwinden
oder nur durch spate Untereint eiluni?en zutage kommen, während es
nach einem andern Prinzip sogleich in hellste Beleuchttmg tritt. Gewiß
wäre es z. B. an sich möglich, die mathematischen Wissenschaften als
Wissenschaften von Strukturgesetzen unter die GesetzeswisMMischaften zu
subsumieren und sie so als bloße Unterart tmter eine (^attung der zweiten
Einteilim^ zu bringen. Aber die Besonderheit dieser Unterart müßte di>ch
gebührend hervorgehoben wenlen. nämlich daß es sich nicht um Struktur-
gesetze äußerer Ciegenstände uml ebensowenig um solche der Erscheimm-
gen handelt, sondern um Strukttu'gosetze künstlich gebildeter homogener
(iegenstände. Gerade diese Besonderheit hat nun so gewaltige Unterschietlc
des ganzen Aufbaues tmd der Beweisführung zur Folge, daß der so ent-
stehende Wissenschaftskomplex nicht zweckmäßig als bloße Unterart in
einem Winkel des Gebäudes untergebracht wird. Dagegen kommt wietler
die Besonderheit der menschlichen (toschichte nur zur genügtniden Geltung,
wenn man die Unterscheidung von Tatsiichen- und Gesetzes Wissenschaften
als eine fundamentale betrachtet.
Für die Praxis hat diese 3Iethode auch den Vorteil, daß die einzel-
nen Hauptwissenschaften, um zu ihrer Definition zu gelangen, nicht notig
haben , den ganzen Stammbaum herzusagen und sich auf ihre Stelhmg und
Ntmimer darin zu beziehen, sondern daß sie mit einem einzigen Unter-
scheidungsmerkmal und höchstens einer Üntereinteilung schon am Ziele sind.
Natürlich kann man zu bestimmten Zwecken auch noch andere Ge-
sichtspunkte einluhren. Handelt es sich z. B. um die Entwickelungsgt*-
' Essai sur U pliilosoplii«^ des Sciences, zuerst 1834 — 1843. Tabelle am Schluß.
* Cber die Ciuteilung der Wissenschaften, Philosopliisclie Studien V, 1 f. Tabellen S. 37,
43. 47. 53-
• The Position of Psychology in tlic System of Knouled^e. Hanard Psychological
Studies I, S. 641. Tabelle am Schluß. Ausführlicher begründet MCnsi'ERbrro seine KlasM-
ßkation in Bd. 1 der Veröffentlichungen des Kongresses in St. I^uis: «Tlic scientific Plan
of the Congress.«
88 Stumpf:
schichte der Wissenschaften, nm die zeitliche Reihenfolge, in der die ver-
schiedenen Disziplinen einen gewissen Reifezustand erlangen, so ist offen-
bar der Umstand besonders ausschlaggebend, ob sie es mit einfacheren
oder verwickeiteren Gegenstanden zu tun haben. Comtes »Hierarchie der
positiven Wissenschaften« enthält in dieser Richtung sehr viel Wahres,
nur daß auch sie zu schablonenhaft durchgefiihrt ist. Die Selbständigkeit
des psychisclien Gebietes wird ganz ignoriert. Die Gegenstände der Wissen-
schaften liegen nicht wie konzentrische Kreise imi einen einzigen Mittel-
punkt, sondern bilden mehrere Wellensysteme, die von selbständigen Mittel-
punkten ausgehend sich schneiden.
Handelt es sich nur um eine übersichtliche und sachgemäße Anord-
nung der Mannigfaltigkeit der vorliegenden Wissenschaftszweige in ihrer
augenblicklichen Form, dann dürften die angegebenen Gesichtspunkte das
Wesentlichste erschöpfen — mit einer Ausnahme. Es fragt sich: wo bleibt
bei dieser Teilung der Erde die Philosophie als einheitliche Wissen-
schaft? Stücke von ihr sind uns da und dort begegnet, wie Psychologie,
Metaphysik, Erkenntnistheorie, Ethik. Aber was hält sie unter sich und
mit den übrigen zur Philosophie gerechneten Disziplinen zusammen?
Gelänge es nicht, irgend ein vereinigendes Merkmal zu finden, so
würden wir damit auf den Standpunkt des Aiistoteles zurückkommen. So
sehr er auf große Zusammenfassungen bedacht ist, hat er doch keine ein-
heitliche Definition von dem, was wir heute Philosophie nennen.
Indessen läßt sich der sachliche Berühi*ungspunkt aller unserer philo-
sophischen Disziplinen finden, wenn man Philosophie als Wissenschaft der
allgemeinsten Gegenstände faßt. Wir haben dann eben, um der Eigen-
art der Philosophie gerecht zu werden, noch diesen fiinften Einteilungs- |
gnmd nötig: allgemeinste und nichtallgemeinste Gegenstände.
Daß die Metaphysik und die sämtlichen »Vorwissenschaften«, die
Phänomenologie, Eidologie, Verhältnislehre, damit auch die Erkenntnis-
theorie , miter diesen Gesichtspunkt fallen , leuchtet ein. Faßt man ferner
Ethik, Ästhetik, Logik als praktische Wissenschaften, die zum Guten, i
Schönen, Wahren leiten, anders gesagt: die in Hinsicht des Wollens, des ,
Geschmackes , des wissenschaftlichen Urteils das Richtige vom Verkehrten \
unterscheiden und innerlich verwirklichen lehren, die Pädagogik endlich j
als die , welche Kultur in jeder Hinsicht durch geregelte Einwirkmig auf
Individuen erzeugen lehrt , so wird ihre Aufnahme in den Kreis der Philo-
Zur Einteilung der Wissenschaften. 89
Sophie gleichfalls gerechtfertigt sein. Die der Pädagogik wenigstens in-
soweit, als sie ihren Begriffen die größte Verallgemeinerung gibt, ihi'e (iegen-
stände unter dem höchsten Standpunkte auffaßt. Daß im librigen diese
Disziplinen die in der spezifisch -menschlichen Organisation gelegenen Be-
dinginigen. ja die besonderen Verhältnisse der Nationen und Zeiten zu
berücksichtigen, daß sie immer mehr in die typischen Unterschiede kleinerer
(! nippen einzudringen haben, je fnichtbarer sie werden wollen, liegt in
ihrer Natur als praktischer Disziplinen; es hindert nicht ihre Zuordnung
zur Philosophie, gemäß dem S. 84 erwähnten Prinzip der Zuonbuing pnik-
tischer zu theoretischen Fächern. Ohne Zweifel stehen diese Untei-suchun-
gen eben doch mit der allgemeinsten Wertlehre in einer unmittell)areren
und essentielleren Verbindung als alle sonstigen praktischen Disziplinen.
Sie gehen zurück auf das, was uns einzig als unmittelbar wertvoll ei*-
scheint, und suchen gerade dies seiner Verwirklichung entgegenzuluhren.
Besteht nun hierüber wenig Meinungsverschiedenheit, so ist um so
mehr eine solche bezüglich der Psychologie entstanden, die sich für
die ganze moderne Wissenschaf^slehre als ein etwas unbequemes Fach er-
weist und uns denn aucli bereits mehrere Male beschäftigen nnißte. Sie soll
nach einigen nicht mehr zur Philosophie gehören. Den Grund freilich, daß
Philosophie ausschließlich von Werten handle, nicht von Tatsachen und
nicht von Gesetzen seiender Dinge oder geschehender Vorgänge, können
wir von vornherein nicht gelten lassen, da wir die Aufgaben der Philo-
sophie in Übereinstimmung mit ilu*er gesamten Vergangenheit als univer-
salere fassen. Die Einfuhrung des Experimentes femer, die uns nicht als
Hindernis erschien, Psychologie den (Jeistes Wissenschaften zuzurechnen,
wurde ebensowenig ein Hindeniis bilden, sie ab? philosophische Wissen-
schaft in Anspi-uch zu nehmen. Denn warum sollte nicht auch Philosophie
das Experiment zu Hilfe nehmen, wo sie es gebrauchen kann? Es wäre
überdies nicht das erstemal.
So bleibt nur ein Motiv der Lostrennung, dem man eine gewisse Be-
rechtigung nicht absprechen kann: der (Gegenstand der Psychologie scheint
nicht die erforderliche Allgemeinheit zu besitzen, da sie nur die Struktur-
und Entstehungsgesetze s(*elisclier Funktionen untersucht, wie Mineralogie
die der (iesteine. Ganz so speziell ist nun zwar ihr Objekt nicht; denn
die Strukturgesetze wenigstens, die sie aufzuzeigen sucht, hab(»n in der
j)sychischen Sphäre als letzte mögliche Vendlgemeinenmgen zu gelten, wie
PhOM.^Mstor.Abh, 1906. V. 12
90 Stumpf:
die der Physik in der physischen. Immerhin, auch die Physik ist gegen-
über der Metaphysik die speziellere Disziplin, und so kann es zunächst
als das Richtige erscheinen, die Psychologie als ein nur relativ allgemeinstes
Fach der Physik zu koordinieren , sie aber der Metaphysik und den eigent-
lich philosophischen Disziplinen zu subordinieren.
Genauer besehen ist jedoch das Verhältnis der Psycliologie zur Meta-
physik oder allgemeinen Weltanschauung ein engeres , essentielleres als das
der Physik. Man braucht nur an die heutigen Systeme des Voluntarismus,
Panpsychismus , die Philosophie des Unbewußten, die Ich- oder die Per-
sönlichkeitsphilosophie und dergleichen immer wieder auftauchende Welt-
anschauungsversuche zu denken , um einzusehen , daß es sich hier nicht um
eine zuftllige , seltsamerweise Jahrtausende überdauernde Arbeitsgemeinschaft
oder Personalunion zwischen Psychologen und Metaphysikem handelt , son-
dern daß ihre Probleme, also die Wissenschaften als solche, heute wie hnmcr
aufs engste zusammenhängen. Und wie? Die Pädagogen wollen Philo-
sophen heißen, es aber den Psychologen verwehren, die doch allein von
Herbarts Tagen an diesem schätzbaren Bündel gutgemeinter Ratschläge
einen wissenschaftlicheren Charakter zu geben vermochten? Und nicht
Pädagogen allein , auch die übrigen , der Philosophie enger als sie verbün-
deten Disziplinen, Ästhetik, Ethik, Logik, Rechtsphilosophie, Religions-,
Sprach- , Sozialphilosophie usw. , sie nähren sich an aUen Ecken und Enden
von psychologischem Blute. Damit ist nicht gesagt, daß sie nur ange-
wandte Psychologie wären und nicht noch andere, selbständige Quellen
und Erkenntnismittel besäßen. Aber soviel ist gewiß: was alle diese so
verschiedenartigen Zweige philosophischer Forschung zusammenhält, ist
nicht so sehr Metaphysik oder Erkenntnistheorie, auch nicht so sehr die
allgemeinen Wertideen, als gerade die psychologischen Untersuchungen,
deren sie samt und sonders in gleich hohem Maße bedürfen. Wie kann
man dai-an denken, dieses Band herauszuziehen und dann noch von »der
Philosophie«, im Simi aller dieser Fächer, als einer Einheit zu reden?
Unstreitig verlieren sich manche psychologische Studien der Gegen-
wart, namentlich solche, die nicht der Psychologie im engsten Sinne, sondern
der Phänomenologie angehören und die zugleich vorzugsweise experimentelle
Behandlung erfahren müssen, derart ins Detail, daß sie die Fühlimg mit
den allgemeinsten Problemen zu verlieren , ja ilinen femer zu stehen scheinen
(vielleicht auch im Geist ihrer Urheber zuweilen w^irklich femer stehen)
Zur Einteilung der Wissenscfioften, 91
als manche chemische, biologische, historische Betrachtung, Aber es ist
hier nicht gut* möglich, eine l)estimmte Grenze zuziehen* Wenn einzelne
Untersuchungen unphilosophisch sind und sein müssen , so ist es doch nicht
die psychologische Wissenschaft als solche und als Ganzes/
Geht aus diesen Betrachtungen, deren speziellere Durchfnlu^ung ich
luer unterla^ssen muß, genügend die Unmöglichkeit einer Abtrennung der
Psychologie vom Organismus der philosophischen Wissenschaften hervor,
so müssen wir eben die Definition der Philosophie so fassen , daß sie aus-
drücklich darin eingeschlossen ist. Denn Definitionen sind nicht da, um
die Wissenschaften zu kommandieren , sondern haben sich den tatsfichliclien
Verhältnissen zu fugen. Ks scheint mir daher sachgemäß, Philosophie zu
definieren als: Wissenschaft von den allgemeinsten Gesetzen des
Psychischen und denen des Wirklichen überhaupt. Mit dieser Er-
klärung sind sogleich die beiden theoretischen Grundwissenschaften be-
zeichnet, die die ganze Mannigfaltigkeit zusammenhalten. Die Zuordnmig
der praktischen Disziplinen erfolgt nach dem obigen Prinzip. Die Definition
Hießt nicht so unmittelbar, wie die zuerst vei-suchte, aus dem Unterschied
allgcMneinster und nichtallgemeinster Gegenstände; aber diese Unterscheidung
liegt doch auch hier zugrunde.
Nimmt man an der dualistischen Form Anstoß, so möge man sich
erinnern , daß das » und « hier eben nicht eine äußerliche Zusammenfassung,
sondern eine innere wesensnotwendige Zusammengehörigkeit bedeutet, mid
daß Philosophie in allen Fällen, wie man sie auch definieren mag (abge-
sehen von ganz willkürlichen Fest.setzungen) , doch nur in dem weitereu
Simi eine Einheit bildet, wie wir etwa auch bei der Mathematik oder der
Jurisprudenz von Einer Wissenschaft reden, obgleich auch sie längst in
relativ ungleichartige Einzeldisziplinen auseinandergegangen sind. Von einer
in diesem weiteren Sinn einheitlichen Wissenschaft nmß num nur verlangen,
daß die so zus?nnmengefaßten Fächer unter sich enger zusanunenhängen als
jedes von ihnen mit irgendeinem anderen.
Schließlich dart* ja aber das Einzwängen in best immtt* Formeln nicht
ftlr wichtiger gelten als die lebendige Wissenschaft selbst. Definiticmen
* Ich stimme in die.*»er Auffa^ssting vollkommen mit Wundt und Mf'NSTRRBRRO öber-
ein: s. des letzteren Rede zur KrölTnung des neuen Ps\ cliolo^isclien histituts der Harvard
UniverMiy 1906, Harvard Psyclu)lo{;ical Studies H, S. ^^3.
92 Stumpf:
wollen nur gleich Titelüberschriften lange sachliche Überlegungen auf mög-
lichst kurzen Ausdruck bringen. Bei der Philosophie wird dies immer nur
unvollkommen gelingen. Das Leben und Weben der philosophischen Idee,
irni einmal liegelisch zu sprechen, läßt sich viel weniger fest, dauernd,
gleichmäßig begrenzen als das wissenschaftliche Forschen in irgendeinem
besonderen Gebiete. Dies zeigt sich nicht bloß an der Stellung der Psycho-
logie, sondern noch «an einer anderen Disziplin, die seit Hegel der Philo-
sophie zugewachsen ist: der Geschichte der Philosophie. Wir pflegen sie
jetzt als einen Teil der Philosophie selbst anzusehen, während man Ge-
schichte der Physik nicht als einen Teil der Physik betrachtet. Ob dies
immer so bleiben wird, kann man nicht wissen. Aber es erscheint mir
gegenwärtig als sachlich berechtigt. Nun ist die Geschichte der Philosophie,
wie alle Geschichte, in erster Linie Tatsachen Wissenschaft. Sind auch ge-
wisse Gesetzmäßigkeiten hier nicht zu verkennen, so beansprucht doch die
rein tatsächliche Existenz dieser bestimmten Systeme, ja dieser philosophi-
schen Individuen, ein selbständiges Interesse, und zwar nicht bloß ein
historisches, sondern auch ein philosophisches. Die großen Ideen der Ver-
gangenheit müssen von den Lebenden, auch wenn sie dazu im Gegensatze
stehen, als Teile ihres philosophischen Selbst aufbewahrt, in ihrem Denken
»aufgehoben« sein. Darin möchte ich Hegel recht geben. Ist nun Philo-
sophie nach der gegebenen Definition eine Gesetzeswissenschaft, und sogar
im prägnantesten Sinne, da sie die allgemeinsten Gesetze zu formulieren
trachtet, so bedeutet die Aufnahme von Untersuchungen, denen die bloße
Feststellung historischer Tatsachen auch schon als ein selbständiges Ziel
gilt, ein Durchbrechen jener Definition.
Indessen bemerkten wir ähnliches schon bezüglich der beschreibenden
N«aturwissenschaften : sie sind ihrer Definition nach Wissenschaften von
Strukturgesetzen physischer Gegenstände, dennoch liegt auch Singuläres
als solches in ihrem Interessenkreis. Eine Unvollständigkeit in anderer
Richtung ergab sich bei der Definition der Geisteswissenschaften als Wissen-
schaften psychischer Funktionen: dort war sofort hinzuzufiigen , daß das
Studium von physischen Lebensäußerungen und Lebensbedingimgen ganz
untrennbar damit verbunden sei. Nirgends, die Mathematik ausgenommen,
können Definitionen die Wissenschaftsbei-eiche vollkommen scharf begi'enzen.
Nicht einmal der Wissenschaftsbegriff selbst bildet fiir die Philosophie
eine feste Umzäimung. Deimit meine ich nicht, daß sie weniger strenge
Ztir Etnirihiikg der Wissmscfuiflen. 93
Anfonlerunijrt'n an Genauigkeit und Bi^i^runJuni^ als amlere Wissensohafton
stellen dürfe. Sie sollte darin im GoirtMiteil rii?in\v>er als alle verlahnMU
da die GnindlairtMi des Erkennrns selbst zu ihriMi Geijensiandeu i^^horiMi
und alles t1)rige von ilir auf seinen Zusammenhang mit diesen GnuullagiMi
geprüft werden nmß. Sondern ieh denke an die antike und vornelnnlieh
platoni^ehe Auffassung der PhiU>soplHe als luVhster Lebensft»nn. An dem
Punkte, wo die Wissenschaft ihren Ahsehluß sucht, berühi-t sieh zugleich
die n'in theoretische Lebenstiitigkcit mit der gesamten gtusiij^^n Kxistenz.
Wiederum aber: in der Dertnition bnmcht dies nicht zu stehen.
PMos.'histor. Abh. 1906. F. 13
y
94 Stum.pf: Zur Einteilung der Wissenschaften.
InhaltsYerzeichnis.
Seite
Einleitung 3
I. Unmiilelbar und mittelbar Gegebenes 5
II. Be^flT des Gegenstandes im weitesten Wortsinnc 6
III. Physisches und Psychisches. Natur- und Geisteswissenschaften 10
1. Naturwissenschaften .10
2. Geisteswissenschaften 20
«Kulturwissenschaften« 23
IV. Neutrale Wissenschaften 26
T. Phänomenologie 26
2. Eidologie 32
3. Allgemeine Verhaltnislehre 37
Vorwissenschaften. Erkenntnistheorie. »Gegenstandstheorie« ... 39
4. Metaphysik 42
V. Reduktion durch Einftihrung des Realitätsbegriflfes (Naturwissenschaften , Geistes-
wissenschaften , Metaphysik) 44
Universaler Psychologismus 46
VI. Individuelles und Allgemeines. Tatsachen- und Gesetzeswissenschaften ... 47
1. Begriff des Gesetzes und der bloßen Tatsache. Unauf hebbarkeit dieses
Unterschiedes 47
2. Interesse der Geschichtsforschung an bloßen Tatsachen. Vergleichung mit
der Naturforschung. Gesetzes- und Tatsachen Wissenschaften in beiden Ge-
bieten ö3
3. Untereinteilungen. Chronologische und chorologische Gliederung. Struktur-
und Kausalgesetze. Beschreibende Wissenschaften behandeln wesentlich
Strukturgesetze 61
YII. Homogenes und Nichthomogenes. Mathematik 64
1. Der Unterschied der Methode muß auf dem des Gegenstandes ruhen . . 65
2. — 4. Gegenstand der Geometrie weder der objektiv-reale noch der phänome-
nale Raum, sondern die aus diesem durch Definition entstehenden homo-
genen Raumgebilde 65
5. Geometrie der Mannigfaltigkeiten 77
6. Zur Methodik 79
YIII. Seiendes upd Seinsollendes. Theoretische und praktische Wissenschaften . . 83
IX. Rückblick. Allgemeinste Gegenstände. Philosophie 86
Bexlin, gcdmckt in der Rcichsdxuckerei
2044 019 091
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the last date stamped below. If another user
places a recall for this item, the borrower wiU
be notified of the need for an earlier retum.
Non-receipt ofoverdue notices does not exempt
the borrower from overduefines.
Harvard College Widener Library
Cambridge, MA 02138 617-495-2413
f^
CA \ '-^c^y^
Please handle with care.
Thank you for helping to preserve
library coUections at Harvard.
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